Wenn man nicht gerade Fan von Brescia Calcio ist, mit deren Tifosi die Ultras aus der Curva Nord der Gewiss-Arena eine erbitterte Feindschaft pflegen, dann muss man Atalanta Bergamo einfach mögen. Trotz eines für Europas Elite lachhaften Budgets hat der Klub aus der bis zum Ausbruch der Covid-19-Pandemie beschaulichen Kleinstadt Bergamo seit 2016 nicht nur die Serie A aufgemischt, sondern ist „nur“ noch drei Siege vom Triumph in der Champions League entfernt.
Kein hypermodernes Stadion, kein milliardenschwerer Scheich als Investor, dafür mittelständische Unternehmen wie die PVC-Firma Radici aus der Lombardei als Sponsoren – Spektakel und Glamour findet man bei Atalanta nur auf dem Spielfeld. Präsident Antonio Percassi hat zwar als Franchise-Nehmer von Benetton, Zara oder Flavio Briatores Luxuslabel Billionaire ein Vermögen gemacht, den Verein führt er aber seit zehn Jahren ausschließlich nach dem Credo: mehr einnehmen, als man ausgibt. Talente zum Spottpreis holen, bestmöglich ausbilden und teuer verkaufen. Und mit dem im Vorjahr verstorbenen Nachwuchs-Guru Mino Favini und Trainer Gian Piero Gasperini holte Percassi Fachleute an Bord, die dieses Prinzip nachhaltig leben.
Kein Fahrstuhlklub mehr
Hartberg-Trainer Markus Schopp, der in seiner vierjährigen Zeit beim Lieblingsfeind Brescia Calcio mit Ikonen wie Roberto Baggio, Pep Guardiola oder Luca Toni zusammengespielt hat, verfolgt Atalantas Weg intensiv: „Bergamo war wie Brescia meist ein Fahrstuhlklub zwischen Serie A und Serie B. Seit Gasperini das Traineramt übernommen hat, ist Atalanta mit diesem hocheffizienten und alles überrollenden Offensivfußball das interessanteste Team Europas.“
98 Tore erzielte man in der abgelaufenen Saison, 51 gingen allein auf das Konto von Josip Ilicic, Duvan Zapata und Luis Muriel. Keine Rede also vom gallischen Dorf, das sich gegen übermächtige Gegner einigelt, wie Diego Simeones Atletico Madrid den Mannschaftsbus vor dem Tor parkt und mit Abrissbirnen in der Abwehr den Strafraum leer fegt. Beim 2:2 gegen Juventus nagelte man Ronaldo und Kollegen acht Minuten und elf Sekunden in deren Hälfte fest, ehe die „Alte Dame“ wieder über die Mittellinie kroch. „Eine gewachsene Mannschaft, die eine unfassbare Dominanz ausstrahlt und in der taktischen Ausrichtung extrem flexibel ist. Es wäre für mich keine Überraschung, wenn sie die Champions League gewinnen. Im Gegensatz zu Paris ist Atalanta voll im Rhythmus und hat nichts zu verlieren. Sie haben nicht das Budget der Großen, aber oft die besseren Spielideen“, analysiert Schopp. Hirn der Elf ist der Argentinier Papu Gomez. Ein genialer Taktgeber, der wohl bei jedem Verein in Europa spielen könnte.
Die Liebe der Stadt zum Klub ist noch inniger geworden
In Bergamo, wo das Coronavirus seit März mehr als 6000 Tote forderte, ist nichts mehr, wie es einst war. Die eleganten Renaissancebauten in der wie eine unbezwingbare Festung wirkenden Citta Alta tragen Trauerflaggen, die Bilder von Militärfahrzeugen voller Särge sind um die Welt gegangen. Mailands „kleine Schwester“ wurde zu Italiens Wuhan, eine ganze Generation an Bürgern fiel der Pandemie zum Opfer. Die schreckliche Tragödie sitzt tief in den Köpfen der Menschen, die ihre Angehörigen ins Krankenhaus Papa Giovanni gebracht hatten und Wochen später eine Urne zugestellt bekamen. Die Liebe der Stadt zu ihrem Verein ist sogar noch inniger geworden, auch wenn angeblich das Achtelfinalspiel der Champions League gegen Valencia am 19. Februar in Mailand ursächlich an der rasanten Ausbreitung des Virus gewesen sein soll. Aus Solidarität blieben sogar die ausländischen Profis während der schweren Zeit in Bergamo. Als am 21. Juni die Serie A den Spielbetrieb wieder aufnahm, wurde gegen Sassuolo im leeren Stadion anstelle des obligaten Status-Quo-Heulers „Whatever you want“ das Lied „Rinascere – Wiedergeboren“ gespielt. Man darf also erwarten, dass die Spieler in Lissabon aus der furchtbaren Situation Kraft schöpfen und die ganze Region stolz machen wollen.
Wenn Atalanta heute im Estadio da Luz auf Paris St.-Germain mit Kylian Mbappe und Neymar trifft, könnte Josip Ilicic fehlen: Der Slowene hat sich seit 11. Juli aus privaten Gründen in seine Heimat Slowenien zurückgezogen und auch schon die letzten sechs Spiele der Serie A verpasst.
Herbert Eichinger