Julian Nagelsmann (34), Thomas Tuchel (48), Jürgen Klopp (54) oder Pep Guardiola (51) verkörpern die junge, moderne Trainer-Generation im europäischen Spitzenfußball. Ihre Art, Spiele und Spieler zu analysieren und zu verbessern, steht für Erfolg. Und doch ist es ein Trainer der alten Schule, der aktuell wieder einmal für Schlagzeilen sorgt: Carlo Ancelotti. Der 62-jährige Italiener führte Real Madrid in dieser Saison zum 35. Meistertitel in Spanien. Damit hat er als erster Trainer in der Geschichte in jeder der Top-Fünf-Ligen (Spanien, England, Deutschland, Italien und Frankreich) den Titel geholt. Zudem sind die Madrilenen in der Champions League, jenem Bewerb, der für die "Königlichen" am wichtigsten ist, im Semifinale.
Und das, obwohl Ancelotti nicht den attraktivsten Fußball spielen lässt. Kein Pressing wie Klopp, kein Ballbesitzfußball wie Guardiola. Aber: Viel (gelernte) Flexibilität, noch mehr individuelle Klasse und der Geist von Real Madrid sorgten zuletzt gegen Paris Saint-Germain und Chelsea in der Champions League sowie in der Liga etwa im Spitzenspiel gegen Sevilla dafür, dass die Madrilenen trotz Rückstandes noch zurückkamen und siegten bzw. den Aufstieg in die nächste Runde schafften. Alles nur "Glück", wie der italienische Ex-Fußballer Antonio Cassano kürzlich in einem Interview sagte. "Ich kann mich an keinen Spieler erinnern, den er besser gemacht hat." Aber: Der Erfolg spricht für Ancelotti. Auch seine Art, mit Spielern umzugehen, wird großteils geliebt. "Jeder spielt gerne für ihn", sagt etwa der Weltmeister von 2014, Philipp Lahm. Er spielte bei den Bayern unter dem Italiener.
"Carletto", wie Ancelotti schon während seiner Zeit als Fußballer genannt wurde, hat "Charme, Humor und eine gewisse Nonchalance", wie Lahm sagt. Der Blick der Trainerlegende ist meistens stoisch, die Augenbraue fast permanent hochgezogen. "Mein Stil ist es, den Spielern die Möglichkeit zu geben, sich wohlzufühlen", sagte er in einem Interview während seiner ersten Amtszeit bei Real Madrid. Das bedeute nicht, dass er auf Regeln, Professionalität oder Disziplin verzichten würde. "Aber ich will mit den Spielern auf dem gleichen Level sein. Ich rede gerne mit ihnen."
Da kommt ihm seine Erfahrung als ehemaliger Weltklasse-Fußballer entgegen. Über Parma und AS Rom, wo er Kapitän war und Meister sowie Cupsieger wurde, wechselte er zum AC Milan. Gemeinsam mit Marco van Basten, Franco Baresi oder Paolo Maldini gewann der Mittelfeldspieler sechs Titel in zwei Jahren. "Ich weiß, wie es als Spieler ist. Ich weiß, wie sie denken", sagt er. "Aber es reicht nicht, ein guter Spieler gewesen zu sein, um Trainer zu werden. Man muss sich immer weiterbilden und lernen."
Denn: Als er 1995 sein erstes Amt als Cheftrainer – damals beim Zweitligisten AC Reggiana – antrat, war er ein anderer Trainer als heute. "Ich habe als Co-Trainer im italienischen Nationalteam unter Arrigo Sacchi das 4-4-2-System gelernt. Also habe ich das als Cheftrainer dann auch spielen lassen, egal, ob die Spieler das System spielen konnten oder nicht. Ich habe weder das Wissen, noch den Mut gehabt, etwas zu ändern." Als Trainer sei es das Wichtigste, "die Charakteristika der Spieler zu kennen und ein System aufzubauen, in dem sich die Spieler wohlfühlen". Mittlerweile, nach knapp 30 Jahren Trainererfahrung, hat Ancelotti einige Systeme eingesetzt. Mit dem 4-3-2-1-System führte er den AC Milan zu zwei Champions-League-Titeln und einer Meisterschaft. Bei Chelsea kamen sowohl das 4-4-2, 4-3-2-1 als auch 4-3-3 oder gar 4-5-1 zum Einsatz. Ebenso bei PSG oder den Bayern. In Madrid vertraut er hauptsächlich einem 4-3-3.
"In der Defensive sind zwei Dinge wichtig", sagt der Italiener, der im Land des Catenaccio privat und fußballerisch groß geworden ist. "Man muss intelligent sein und zusammenarbeiten. Auch, wenn man nicht so talentiert ist, kann man gut verteidigen, wenn man diese zwei Dinge beherrscht. In der Offensive muss man talentiert sein, Kreativität besitzen und den Torinstinkt haben."
Genau das zeichnet jenes Real Madrid aus, das nun Meister wurde und Ancelotti so zum ersten Trainer in der Geschichte gemacht hat, der in allen Top-Ligen Europas den Titel gewonnen hat. Mit dem Österreicher David Alaba und Eder Militao im Abwehrzentrum sowie Dani Carvajal, Ferland Mendy, Lucas Vazquez bzw. Nacho Fernandez hat man intelligente Spieler, die im Team arbeiten. Im Mittelfeld bilden Toni Kroos, Luka Modric und Casemiro ein Trio, das sowohl fußballspielen als auch zerstören kann. Und vorne sind Karim Benzema, Vinicius Junior und Federico Valverde bzw. Rodrygo jene Freigeister und Talente, die jede Defensivreihe in Angst und Schrecken versetzen.
Die Kritik an Ancelotti teils unattraktivem Fußball lässt ihn kalt. Barcelona-Trainer Xavi etwa meinte unlängst: "Bei Barca haben wir die Absicht, zu gewinnen und dabei schön zu spielen. Keine Ahnung, wie das bei Real ist." Die Antwort von Ancelotti ließ nicht lange auf sich warten: "Manche Klubs wollen schön spielen, manche wollen Titel gewinnen." Und das Titel-Match geht in dieser Saison ganz klar an Ancelottis Madrilenen.