Dem Jubel über den Gewinn der EM-Trophäe folgt in Italien keine neun Monate später das Desaster. Nach dem 0:1 gegen Nordmazedonien und dem damit verbundenen Ende aller Träume von der für die Azzurri eigentlich als selbstverständlich erachteten WM-Teilnahme herrscht Schockstarre im Land des vierfachen Weltmeisters. Wie vor vier Jahren, als es im Play-off eine Niederlage gegen Schweden setzte, findet die Endrunde ohne Italien statt.
"So wie die EM die schönste Erfahrung meines Lebens war, ist dies die größte Enttäuschung", sagte Nationaltrainer Roberto Mancini nach der blamablen Niederlage gegen den Außenseiter am Donnerstagabend. "Disastro Italia", schrieb die "Gazzetta dello Sport" treffend. Für den "Corriere della Sera" erreichte der italienische Fußball "sein niedrigstes Niveau aller Zeiten".
Ein Tor von Aleksandar Trajkovski (92.) in der Nachspielzeit ließ die Gäste in Palermo jubeln, nachdem der Favorit zuvor seine Möglichkeiten teils leichtfertig vergeben hatte. Entsetzt sanken die italienischen Stars nach dem Schlusspfiff zu Boden. "Wir sind enttäuscht, gebrochen, am Boden zerstört", sagte der erst spät eingewechselte Routinier Giorgio Chiellini. EM-Held Jorginho fügte hinzu: "Es ist schwer zu erklären, was passiert ist. Ich kann es immer noch nicht glauben."
Jorginho war es, der in der Qualifikation bei den beiden Unentschieden gegen die Schweiz jeweils einen Elfmeter verschossen und dadurch den Gang ins Play-off mitverursacht hatte. "Das wird mich für den Rest meines Lebens verfolgen", meinte der gebürtige Brasilianer. Die Nordmazedonier konnten ihr Glück indes kaum fassen. "Ich bin noch immer wie unter Schock. Jetzt können wir uns auf eine großartige Rückkehr nach Nordmazedonien einstellen", sagte Kapitän Stefan Ristovski. Teamchef Blagoja Milevski scherzte: "Wir haben im italienischen Stil gegen Italien gewonnen. Mit einem Treffer aus zwei Schüssen aufs Tor."
Ein derart peinliches Aus schreit in Italien gewöhnlich nach Konsequenzen. Mancini wollte kurz nach dem Spiel noch nicht über seinen Abschied sprechen. "Wir werden sehen - die Enttäuschung ist zu groß, um über die Zukunft zu sprechen", sagte der Coach auf eine entsprechende Frage. "Es wird nicht einfach in den nächsten Tagen", gab Mancini zu. Sein Vertrag läuft bis 2026.
Verbandschef Gabriele Gravina sprach sich noch in der Nacht für eine Fortsetzung der Zusammenarbeit aus: "Ich wünsche mir, dass Mancini bei uns bleibt. Wir haben uns für ein Projekt verpflichtet." Für den Fall eines Mancini-Rücktritts wird aber schon über Fabio Cannavaro als Nachfolger gemunkelt. Der Weltmeister-Kapitän von 2006 coachte bisher in den Vereinigten Arabischen Emiraten, Saudi Arabien und China.
Spötter erinnerten am Freitag daran, dass Italien seit dem gewonnenen WM-Finale 2006 mit dem Kopfstoß-Eklat zwischen Materazzi und Zinedine Zidane kein WM-Spiel mehr gewonnen hat. 2010 in Südafrika blieb die Squadra in der Gruppenphase ebenso ohne Sieg wie 2014 in Brasilien. Es ist vom Fluch die Rede wegen Materazzis Beleidigung gegen den Franzosen. Der italienische Fußball gehört grundlegend reformiert, das ist die einhellige Meinung der Analysten und Experten.
Dieser sei "kulturell rückständig, es gibt keine neuen Ideen. Die anderen Nationen entwickeln sich, wir sind auf dem Stand von vor 60 Jahren geblieben", sagte Ex-Teamchef Arrigo Sacchi der "Gazzetta dello Sport". Die Mängelliste ist lang. "Unsere Jugendabteilungen sind voll mit Spielern aus dem Ausland, die gekauft werden wie Obst und Gemüse, die Clubs sind höchstverschuldet, die Teams gewinnen außerhalb Italiens nichts mehr und niemandem sagt etwas?", fragte Sacchi provokant. Seit dem Champions-League-Triumph von Inter Mailand 2010 hat kein Serie-A-Team mehr einen großen Vereinspokal gewonnen.
Für Nordmazedonien geht es hingegen nach Portugal. Dort kämpft der Außenseiter, der in der Gruppenphase schon Deutschland mit einem 2:1 in Duisburg düpiert hatte, am Dienstag gegen Cristiano Ronaldo und Co. um das WM-Ticket. Portugal genießt wie Italien Heimrecht, gespielt wird im Estadio do Dragao von Porto. Dort schalteten die Iberer die Türkei am Donnerstag mit 3:1 aus. Die Portugiesen benötigten aber auch die Mithilfe des türkischen Torschützen Burak Yilmaz, der vom Elferpunkt die Chance auf das späte 2:2 ausließ.
Das Schicksal Italiens soll für sein Team eine Warnung sein, sagte der portugiesische Trainer Fernando Santos. "Wir müssen denselben Respekt vor Nordmazedonien haben wie vor Italien", monierte er. "Ich habe euch schon vorher gesagt, dass wir gegen sie spielen könnten. Diese Partien sind kein Scherz, sie sind wie ein Finale, alles kann passieren", sagte Santos zu Journalisten. Ristovski blickte dem Duell hoffnungsvoll voraus: "Können wir Portugal schlagen? Natürlich. Wir werden alles versuchen, und wir werden es schaffen."