Als wäre Corona nie gewesen. Rot glühten die Rauchfackeln. Schulter an Schulter drängten sich auf den Rängen die Massen bei der 200. Auflage des „ewigen Derbys“ zwischen Partizan und Roter Stern Belgrad. Fast 25.000 Fans sorgten im Partizan-Stadion vor allem in den Kurven für geballte Nähe: Als Europas größte Menschenansammlung seit Ausrufung der Pandemie ging der 1:0-Triumph von Partizan in Serbiens Pokalhalbfinale schon vor Anpfiff in die Fußball-Annalen ein.
Masken oder die vorab verkündete Vorsichtsmaßnahme von mindestens einem Meter Abstand zwischen den Fans waren in dem betagten Betonrund am Mittwochabend weder zu sehen noch zu erkennen. Wie die Kontrahenten auf dem Platz rückten sich auch die Zuschauer in dem beinharten Kräftemessen dicht auf die Pelle. Nur an den Rändern der Gegengerade konnten diejenigen, die wollten, das auch in Serbien gültige Gebot der sozialen Distanz tatsächlich auch befolgen.
Fans von Roter Stern Belgrad mit nationalistischen Kapriolen
Spielerisch hat Roter Stern seit dem Abschied des deutschen Spielmachers Marko Marin, der in der Winterpause dem Ruf der Petro-Dollars nachgab und mit 31 Jahren zu Al Alhi nach Saudi-Arabien wechselte, merklich an Qualität eingebüßt. Aber dafür machte der Europapokalsieger von 1991 schon vor Spielbeginn durch nationalistische Kapriolen von sich reden – wieder einmal.
Erst überreichte das Präsidium zu Wochenbeginn ein Vereinstrikot mit der Nummer „1“ an den nach dreizehneinhalb Jahren Haft in Australien und Kroatien heimgekehrten Kriegsverbrecher Dragan Vasiljkovic: Der „Kapitän“ hatte nach seiner Rückkehr eine Amnestie für die Mörder des 2003 erschossenen Reformpremiers Zoran Djindjic gefordert. Dann drehten die „Delije“-Ultras den vor dem eigenen Marakana-Stadions installierten Panzer in Schussrichtung des Partizan-Stadions: „Gruß aus Belgrad“ lautete die Panzerrohr-Facebook-Botschaft an die erbitterten Stadtrivalen.
Die Zahl der Corona-Neu-Infizierten in Serbien steigt wieder
Der niveauarme, aber von dichten Rauchschwaden und massivem Einsatz von Pyrotechnik ebenso wie von wüsten Fouls überschattete Kick wurde von den motivierter wirkenden Partizan-Recken durch ein Tor des Israeli Bibras Nacho entschieden – 1:0 hieß es am Ende für Partizan. Die naheliegende Frage, ob eine so große Menschenansammlung in Zeiten der auch in Serbien keineswegs ausgestandenen Epidemie zu verantworten sei, schien derweil auch nach Abpfiff kaum jemanden zu interessieren. Nur das Webportal „nova.rs“ warnte, dass eine so große Menschenmenge an einem Ort „hochriskant“ sein könne.
Eigentlich ist Serbien in der Viruskrise dank wochenlang sehr harter Ausgangssperren mit 12.102 Infizierten und 252 Todesopfern relativ glimpflich davon gekommen. Doch stabil ist die epidemiologische Lage im Land keineswegs. War die Zahl der Neu-Infizierten Ende Mai auf unter 20 pro Tag gerutscht, ist diese mittlerweile wieder auf 70 bis 80 pro Tag geklettert – auffällig schwankend.
"Aus epidemiologischer Sicht keine verständliche Entscheidung"
Im benachbarten Nordmazedonien schwitzte der Großteil der Bevölkerung wegen der steigenden Infektionenzahlen am Wochenende wieder im 80-stündigen Hausarrest. Doch in Serbien stehen am 21. Juni Parlamentswahlen an. Die Rückkehr zur Normalität scheint Teil des Stimmenstreits von Staatschef Aleksandar Vucic zu sein: Auch als Sieger über die Epidemie will Serbiens Dauerdominator den von der Opposition teilweise boykottierten Urnengang für seine rechtspopulistische SNS entscheiden.
Wenn schon kaum Brot, dann wenigstens Spiele: Ausgerechnet an dem Tag, als die SNS wegen der Infektionsgefahr alle Wahlkundgebungen absagte, bliesen die Rivalen für das Corona-Derby zum Angriff. Er könne nicht sagen, ob der Krisenstab das Spiel „unter politischen Druck“ wegen der Wahlen zugelassen habe, sagte Epidemiologe Zoran Radovanovic: „Aber aus epidemiologischer Sicht war das keine verständliche Entscheidung.“
Thomas Roser aus Belgrad