Wir schreiben den 18. Dezember 2022. In Lusail/Katar, einem urbanen Projekt nördlich von Doha, stehen einander die zwei Finalisten der Fußball-Weltmeisterschaft gegenüber. Das Thermometer zeigt milde 22 Grad an, das für alle Eventualitäten gerüstete Stadion kann ungekühlt benützt werden. Auf der Ehrentribüne sitzt ein zufrieden lächelnder Gianni Infantino. Der Platz neben dem Emir von Katar war schon seit Jahren für den Präsidenten des berüchtigten Weltfußballverbandes (FIFA) reserviert.
Eben erst hat das Scheichtum die in Europa von eher mäßigem Interesse begleitete, aber vom glorreichen FC Liverpool gewonnene Klub-WM abgewickelt, natürlich zu aller Zufriedenheit, der Dezember hat sich angesichts der äußerst angenehmen Temperaturen als Termin bestens bewährt. Dennoch lässt die Fußball-Weltmeisterschaft die Gemüter einer in Normbereichen denkenden Gesellschaft hochkochen, und das hat viele gute Gründe.
Dass die mutmaßlich größte Sportveranstaltung des Planeten im europäischen Winter über die Bühne geht, ist das Ergebnis von intensivem Lobbying der Katarer, zum Beispiel bei der ECA, einer Vereinigung der europäischen Fußballklubs. Dass eine WM überhaupt in einem Land mit einer Fläche, die ungefähr jener von Oberösterreich entspricht, ins Rollen kommen wird, hat freilich mit gewöhnlichem Lobbying nichts mehr zu tun. Es sei denn, der Begriff wird so weit gefasst, dass darin auch der gesamte Komplex der Korruption mit hineingezogen wird. Jedenfalls haben die Beteiligten ganze Arbeit geleistet.
Doppel-Vergabe
Schon das bloße Faktum einer Doppel-Vergabe anno 2010, als die Ausrichter der WM-Turniere für 2018 und 2022 scheinbar der Einfachheit halber in einem Aufwischen bestimmt wurden, hätte Beobachter der Szene hellhörig werden lassen müssen. „Ohne die Vorlaufzeit von elf Jahren wäre eine Weltmeisterschaft in Katar niemals möglich gewesen“, sagt der Österreicher Heinz Palme, ein intimer Kenner der Szene. Der jetzt wieder in Wien lebende gebürtige Steirer kann auf eine langjährige Erfahrung im internationalen Fußball-Geschäft zurückblicken.
2006 war der jetzt 61-Jährige Koordinator des OK der Fußball-WM in Deutschland und WM-Protokollchef, zwei Jahre später bei der Heim-Europameisterschaft fungierte Palme als Chefkoordinator der österreichischen Bundesregierung. Das weckte das Interesse der Katarer, die den ausgewiesenen Fußballexperten ins WM-Team holten. Vom 1. Jänner 2012 bis 31. 12. 2017 war Palme als stellvertretender Generaldirektor und rechte Hand von Helmut Spahn (Sicherheitschef der WM 2006) maßgeblich beteiligt am Aufbau des in Doha ansässigen Internationalen Zentrums für Sicherheit im Sport (ICSS). Sechs Jahre in einer leitenden Position sind lange genug, um tiefe Einblicke in das System und auch die Denkweise des Volkes zu erhalten.
Lauter Fußball-Narren
Die Katarer, allen voran der seit 2013 im Amt befindliche Emir Tamim bin Hamad al Thani und dessen Vater Hamad bin Chalifa al Thani, der die WM ins Land geholt hatte, seien „extrem sportbegeistert“. Das Größte, Schönste und Beste ist für die in Öl-Milliarden badenden Scheichs gerade gut genug. Der Emir sei ein „Fußballnarr. Sport hat höchste Priorität“, sagt Palme und es ist ein sehr probates Mittel, die „Aufmerksamkeit der Welt auf das Land zu lenken“. Das ist gelungen, der beabsichtigte positive Kontext hielt sich in sehr engen Grenzen. Doch eine Trendwende zeichnet sich bereits ab. „Es ist ein sehr cleveres Volk“, hat Palme gelernt. Also gilt es, die negative öffentliche Meinung sukzessive umzukehren. Denn die grundlegende Faktenlage ist erdrückend und wäre geeignet, die Weltmeisterschaft umgehend an ein anderes Land zu vergeben.
Vom 22-köpfigen Wahlgremium, dem damaligen FIFA-Exekutiv-Komitee, das im Dezember 2010 die Turniere an Russland (2018) und an Katar (2022) ausgeliefert hat, sind heute nur vier Personen weitgehend frei von Korruptionsanschuldigungen. Die überwiegende Mehrheit ist entweder angeklagt oder gar schon verurteilt oder steht zumindest unter Verdacht. Einige können, da verstorben, nicht mehr belangt werden.
Das nicht selten ins Spiel gebrachte Argument, dass auch beinahe jedes Veranstalterland in den vergangenen Jahrzehnten, also nicht nur das im gleichen Atemzug mit Katar genannte Russland, unter ähnlich dubiosen Umständen in den Genuss der Austragung gekommen ist, kann diesen Extremfall nicht unter den Sand kehren. Aber die Weltmeisterschaft Katar 2022 ist selbst dann nicht mehr zu verhindern, wenn alle Beweise vorliegen und sämtliche Täter überführt sind.
Kurze Wege
So wird nun rund um die Uhr gearbeitet, um dem Turnier zu mehr Popularität zu verhelfen. Tatsächlich blüht uns, ganz im Gegensatz zur nächstjährigen multinationalen Fußball-Europameisterschaft, im Wüstensand-Reich ein Turnier der ausgesprochen kurzen Wege. Die größte Distanz zwischen zwei der insgesamt acht Stadien beträgt rund 70 Kilometer. Fast alle Spielorte sind mit der inzwischen großteils bereits fertiggestellten U-Bahn zu erreichen. Klimatische Unterschiede, wie sie etwa bei der WM in Brasilien in Extremform zu beobachten waren, gibt es im Dezember nicht. So spielen alle Teams unter beinahe gleichen äußeren Bedingungen, bei nahezu idealen Temperaturen.
Auch das im Sommer nach anstrengenden Meisterschaften oft vorgebrachte Argument, die Spieler seien oft ausgepowert, verliert in Katar seine Gültigkeit. Die europäischen Meisterschaften etwa ruhen zwischen Mitte November und Ende Dezember. Das oben genannte Lobbying hat also seine Wirkung nicht verfehlt. Auch die in den Anfangsjahren in Verruf gekommenen und damals tatsächlich teilweise äußerst unwürdigen Arbeitsbedingungen haben sich zuletzt verbessert. „Sie arbeiten nicht unter europäischen, aber geordneten asiatischen Verhältnissen“, sagt Palme. „Sie waren gezwungen, die Standards zu erhöhen.“
Der Österreicher kleidet das umstrittene Turnier in eine besondere Worthülle. „Für die Fans werden es olympische Spiele des Fußballs.“ Dank der kurzen Wege. Und zuletzt hat sich sogar das Fußballteam aus dem eigentlich verfeindeten Saudi-Arabien am Golf-Cup in Doha beteiligt. Lebt der Fußball sogar in diesem äußerst komplizierten politischen Konflikt seine Völker verbindende allumspannende Kraft aus? Wir werden es sehen. Dass die WM 2022 gekauft war, wird nach dem finalen Pfiff jedenfalls nur noch als Notiz in der umfassenden Skandalgeschichte der Fußball-Weltmeisterschaften wahrgenommen werden.