Italien wachte an diesem Dienstag mit einem gewaltigen Kater auf, ausgelöst durch die ureigenste Leidenschaft der Südeuropäer. Fußball war lange Zeit ein letzter Anker für das angeschlagene Selbstbewusstsein des Südens. Nun müssen sich die Tifosi auf allen Fernsehkanälen die Bilder der eigenen Unzulänglichkeit ansehen, maskiert von blauen Fußballtrikots. Italiens Krankheiten sind bekannt: die Folgen der Wirtschaftskrise, knapp 40 Prozent Jugendarbeitslosigkeit, Skandalpolitiker en masse. Aber immerhin stand Gigi Buffon zuverlässig im Tor der Squadra Azzurra. Ein lebendiges Denkmal. Unter Tränen, die in vielen italienischen Haushalten ansteckende Wirkung entfalteten, gestand der Torwart das Scheitern der Nation ein. „Dahin auch die Illusion, wenigstens im Fußball noch etwas zu zählen“, schrieb der „Corriere della Sera“.
"Völlige Neuaufstellung des italienischen Fußballs"
Die Tifosi hatten nicht einmal die Kraft, ihre gefallenen Helden mit Tomaten zu bewerfen, wie bei früheren sportlichen Katastrophen. Luca Lotti, der für Sport zuständige Minister, forderte die „völlige Neuaufstellung des italienischen Fußballs“. Was das heißen soll, blieb sein Geheimnis. Genauso gut hätte er eine Neuordnung des Landes fordern können. Experten rechneten die ökonomischen Verluste der Nicht-Qualifikation vor. Während der letzten EM habe das Geschäft mit Fernsehern um vier Prozent zugelegt, daraus wird 2018 garantiert nichts. Ganz Wagemutige bezifferten den Zuwachs des italienischen Bruttosozialprodukts im Jahr des letzten WM-Gewinns 2006 mit einem Prozent. Aus der Traum auch unter diesen Gesichtspunkten. Das Land steckt in der Depression.
Italien wartet auf den Umschwung
Ein WM-Titel wie 2006 oder Reformerfolge einzelner Regierungen sind Ausreißer in einer stagnierenden Wirklichkeit. Prägend sind trotz aller positiven Wasserstandsmeldungen immer noch die Wirtschafts- und Finanzkrise, die 2008 ihren Anfang nahmen, sowie kurzsichtige Politik. Die Industrie rappelt sich mühsam auf, aber vor allem ist es eine ganze Generation junger Menschen, die nicht optimistisch in die Zukunft blickt, weil am Horizont nur ein Gelegenheitsjob winkt. Das historische Scheitern der Nationalelf bestätigt diesen traurigen Befund nur aufs Neue. Italien wartet auf den Umschwung. Im Fußball wird dieser jetzt mit dem Abtritt der älteren Generation erzwungen.
In der Politik wird der Misserfolg im Fußball bereits fleißig instrumentalisiert. „Zu viele Ausländer auf den Spielfeldern“, tönt etwa der Chef der fremdenfeindlichen Lega Nord, Matteo Salvini. Und in der Politik arbeitet sich gerade auch ein alter Bekannter wieder ins Rampenlicht, der wegen Steuerbetrugs verurteilte Ex-Premier Silvio Berlusconi. Eine WM ohne Italien und Berlusconi zurück an der Regierung? Das ist nicht ScienceFiction, sondern ein Ausblick in die italienische Realität im Jahr 2018.