Es ist besser gekommen als gedacht für die Franzosen, viel besser sogar. Sportlich zunächst. Der EM-Gastgeber hat Deutschland geschlagen, den Angstgegner, den Weltmeister, und greift nun nach dem Titel. Aber auch gesellschaftlich tut sich Erfreuliches. Nach anfänglichem Zögern haben die Franzosen Vertrauen in ihre Multikulti-Truppe und beginnen, sich mit den Helden zu identifizieren. Ein Hauch von „Black, blanc, beur“ liegt in der Luft, von dieser 1998 nach dem WM-Titel aufgekommenen Hoffnung, schwarze, weiße und aus arabischen Ländern stammende Franzosen könnten es den Fußballern nachtun, zum Wohle der Nation gemeinsame Sache machen.
Trennendes ist in den Hintergrund getreten. Die Proteste gegen eine zwar zusammengestrichene, aber nicht gänzlich zurückgezogene Arbeitsmarktreform sind abgeflaut. Bahnstreiks, Raffinerie-Blockaden, Piloten-Ausstand, von Ausschreitungen überschattete Massenkundgebungen? Aus den Augen, aus dem Sinn. Die Sorge, Terroristen würden die EM in Blut ertränken, hat sich als unbegründet erwiesen. Und die Sommerferien haben begonnen. Selten haben die zermürbten Franzosen sie so herbeigesehnt wie diesmal, selten haben sie eine Auszeit mehr verdient.
Konflikte nur verschoben
Das Erreichte scheint umso kostbarer, als es nicht von Dauer sein wird. Was nach Frieden aussieht, ist Waffenruhe. Die Konflikte, die das Land eben noch in Atem gehalten haben, sind nicht beigelegt, die ihnen zugrunde liegenden Probleme nicht gelöst. Die Arbeitsmarktreform hat keine nennenswerten Fortschritte gebracht. Die Arbeitslosigkeit verharrt trotz der niedrigen Zinsen und Ölpreise bei zehn Prozent. Das Anschlagsrisiko ist groß wie eh und je. Die Vorbehalte gegenüber den im Generalverdacht stehenden Muslimen des Landes sind nicht ausgeräumt. Der gesellschaftliche Zusammenhalt bleibt brüchig.
Und so wird dem Rausch des Fußballs der Kater folgen, werden sich die alten Ängste zurückmelden. Zumal nicht zu erwarten ist, dass die Politik die zugrunde liegenden Probleme entschärfen wird. Ende April finden Präsidentschaftswahlen statt. Dass die Beteiligten sich im Wahlkampf zurücknehmen, das Gemeinwohl voranstellen, ist unwahrscheinlich. Es bleibt ja jetzt schon auf der Strecke. Staatschef Francois Hollande hat milliardenschwere Wahlkampfgeschenke angekündigt, Frankreichs Haushaltsdefizit würde damit auch 2017 die Drei-Prozent-Hürde reißen. Ex-Präsident Nicolas Sarkozy schickt sich an, gesellschaftliche Gräben aufzureißen, die sich in kollektiver Fußballbegeisterung eben erst ein wenig geschlossen haben. Der Ex-Präsident verlangt von denjenigen, die Franzosen sein wollen, dass sie sich angleichen, sich die – christliche – französische Lebensart zu eigen machen.
Weitere kostbare Zeit wird so vergehen, ohne dass überfällige Weichenstellungen getroffen werden. Das gilt auch für die Gestaltung Europas. Hollande mag ein begnadeter Taktiker sein. Es wäre ihm zuzutrauen, dass er erneut antritt, sich in einer Stichwahl gar als das kleinere Übel gegen die Rechtspopulistin Marine Le Pen durchsetzt. Dass er aber die Kraft zur Vision aufbringt, gemeinsam mit Angela Merkel der EU nach dem Brexit neue Wege zu weisen, ist ihm nicht zuzutrauen.
Dabei wäre die Gelegenheit günstig. Nach dem Sieg über Deutschland ist in der von Selbstzweifeln zermürbten französischen Gesellschaft Zuversicht aufgekommen, ja Aufbruchsstimmung.
Sie könnte womöglich weiter tragen als bis ins Sommerferiendomizil.