Fußball und Politik lassen sich nicht trennen. Das ist nicht erst seit dem Zerfall Jugoslawiens klar, bei dem die nationalen Brüche zuerst in den kroatischen und serbischen Stadien sichtbar wurden. Aufgrund des Konflikts wurde Jugoslawien kurz vor der EM 1992 ausgeschlossen. Dänemark rückte für das Land nach – und holte den Titel.
So klar zeigte sich der politische Aspekt bei dieser Euro nicht. Und doch klingen die Zwischentöne nach weit mehr als „nur Sport“. Der Fußball ist dafür wie geschaffen – mit seinen einfachen Regeln ist er die einzige Sportart, die weltweit beachtet wird. Die Bipolarität eines Fußballspiels sorgt zudem für einfache Kategorien in einer komplizierten Welt: wir gegen die anderen. Man identifiziert sich mit einer Mannschaft – aus nationaler Zugehörigkeit oder auch, weil man sich mit Spielweise oder Ausstrahlung verbunden fühlt. Kollektiv wird mitgefiebert, ohne sich tatsächlicher Gefahr auszusetzen.
Natürlich, der Besuch eines Fußballspiels ist heute wohl gefährlicher als noch vor wenigen Jahren. Der Terror hat die sportliche Bühne als potenzielles Ziel wiederentdeckt; Ende 2015 wurde in Paris ein Anschlag direkt im Fußballstadion knapp abgewendet. Die Attentate passierten davor. Trügerische Ruhe wird frühestens nach dem morgigen Finale einkehren.
Brexit und Sündenböcke
Die sportliche Bühne wird auch von anderen für ihre Zwecke genützt. Die Streikdrohungen in Frankreich fielen nicht zufällig mit den ersten EM-Spielen zusammen, Politiker sitzen aus gutem Grund kamerawirksam im Stadion oder lassen sich bällejonglierend im Büro ablichten. Dazu kann das Image eines Landes aufpoliert werden: Island ist plötzlich jemand, auch Nordirland und Irland zählen durch ihre Fans zu Gewinnern. Das Überstehen der Vorrunde hat bei den Briten dennoch zu keinem positiveren Europagefühl geführt. Der Brexit ist gekommen. Die Emotionen der Austrittsdiskussionen waren von verbindenden Fußballgefühlen nicht zu besiegen.
In Österreich bleibt derweil Cordoba weiter ein geflügeltes Wort. Alaba, Dragovic, Okotie und Co haben als role models einer bunten Gesellschaft vorerst ausgedient. Läuft’s schlecht, sind Sündenböcke schnell gefunden: „Was willst du mit zwei Kohlensäcken in der Mannschaft gewinnen?“, stand sinngemäß in einem User-Kommentar auf der Facebook-Seite von HC Strache. Im Erfolgsfall ist das kein Thema: Mit Kritik an einem gut spielenden Jerome Boateng hat sich die deutsche AfD gehörig die Finger verbrannt. Nach dem deutschen EM-Aus vor zwei Tagen provozierte sie via Twitter erneut: „Vielleicht sollte nächstes Mal dann wieder die deutsche NATIONALMANNSCHAFT spielen?“
Symbolische Ersatzkriege wurden bei dieser EM keine ausgetragen; dafür fehlten Paarungen, wie es Deutschland gegen die Türkei hätte sein können. Schweiz und Albanien zeigten vor, wie ein faires Bruderduell aussehen kann – mit gebürtigen Kosovaren in beiden Mannschaften. Beide fürchten nun, dass der sportlich neu anerkannte Kosovo ihnen bald Spieler wegschnappen wird. Sie bekritteln: Politisch sei der Kosovo weiter ein Streitfall.
Bei Kroatien zeigte sich die Zerrissenheit des Landes erneut: Fans kroatischer Vereine versuchten, ihrem ungeliebten nationalen Verband durch Ausschreitungen gegen Tschechien zu schaden. Gleichzeitig prügelten Russen im Familiensektor auf unschuldige Engländer ein. Reine Gewalt, kein Politikum – bis der stellvertretende russische Parlamentspräsident fragte, was schlimm daran sei, wenn Russen für ihr Vaterland kämpfen. Die nächste WM geht 2018 in Russland über die Bühne.
THOMAS KUHELNIK
Thomas Kuhelnik