Nein, Gemütlichkeit ist kein Bestandteil des Almanachs der deutschen Fußballtugend. Schon eher die Gründlichkeit. Und dafür wird auch die eine oder andere Mühsal in Kauf genommen, wie etwa eine einstündige Busfahrt, um den Flieger zum ersten Euro-Match zu erreichen. Die Mannschaft von Jogi Löw brach von ihrer Zuflucht in Evians-les-Bains am Südufer des Genfer Sees in den hohen französischen Norden auf. Wer Weltmeister ist, darf schließlich auch auf europäischer Ebene damit rechnen, einen weiten Weg vor sich zu haben. Und dort oben, in Lille, soll heute im ersten Gruppenmatch gegen die Ukraine der Grundstein gelegt werden für den vierten EM-Titel. Der bisher letzte liegt immerhin schon 20 Jahre zurück.
Unter Löws Leitung ist der mit Konsequenz verfolgte Weg zum Erfolg fixer Bestandteil des Wertekatalogs der deutschen Fußballnationalmannschaft. Das Halbfinale, für andere jenseits des Horizonts, gehört zum Standard. 2008 war erst im Finale Endstation (bei Spanien), 2010 (WM/Spanien) und 2012 (EM/Italien) in der Vorschlussrunde, 2014 bei der WM in Brasilien gab es keinen Halt mehr. Daher ist Deutschland immer dabei, wenn es um die Aufzählung der Favoriten geht, auch wenn andere Teams wie der zum Auftakt gerade noch erfolgreiche Gastgeber Frankreich für diese konkrete Veranstaltung meist vorher genannt werden.
Turnierstärke
Weil Deutschland als Turniermannschaft gilt und dies fast immer unter Beweis gestellt hat, ist alles, was zuletzt geschah, nicht von Belang. So gab es in den vergangenen neun Länderspielen vier Niederlagen, darunter aber auch das 0:2 gegen Frankreich in der Pariser Terrornacht. Beim 1:3 kürzlich gegen die Slowakei fehlten einige Stammkräfte, außerdem herrschten wegen Starkregens fast irreguläre Bedingungen. Personalprobleme haben die Deutschen auch, so fehlen in der Innenverteidigung Mats Hummels und Antonio Rüdiger. Marco Reus kam nicht in den EM-Kader und Bastian Schweinsteiger ist für einen Einsatz vom Start weg nicht fit genug. Mit Hummels rechnet Löw aber bereits für die restlichen zwei Gruppenspiele.
Aber Deutschlands Reservoir ist groß genug, um die Ausfälle adäquat zu kompensieren. Darüber hinaus verfügt Löw mit Real-Madrid-Star Toni Kroos und Arsenal-Legionär Mesut Özil über zwei „überragende Spieler“, wie er selbst auch am Vortag des Matches betonte. „Da profitieren wir auch von den unterschiedlichen Fußballkulturen“, so der Nationaltrainer, der auch Selbstbewusstsein demonstrierte. „Wir wissen, dass die Erwartungen hoch sind, aber wir können damit umgehen. Druck ist für uns kein Thema.“
Kroos vermittelt ebenfalls deutsche Stärke, warnte aber: „In solchen Spielen wie jenem gegen die Ukraine sollten wir spielerisch überlegen sein, aber wenn wir nicht die gleiche Kampfkraft hineinlegen, kann es schwierig werden.“
HUBERT GIGLER, PARIS