"Fratelli d'Italia, l'Italia s'è desta" - "Brüder Italiens, Italien hat sich erhoben." Der Beginn der italienischen Nationalhymne bezieht sich freilich nicht auf sportliche Ereignisse. Aber Italien hatte sich auf sportlicher Ebene einst wirklich erhoben. Vor zehn Jahren, am 9. Juli 2006, gewann das Land zur Überraschung aller die Fußball-Weltmeisterschaft in Deutschland. Es war der letzte, große Erfolg der Nation.
Fabio Grossos Elfmeter, der Italien 2006 zum Weltmeister kürte:
"2006 hatte Italien eine sehr starke Mannschaft mit vielen Ausnahmeprofis", sagt Italliens Teamchef Antonio Conte heute. "Das ist jetzt nicht so." Fußball-Italien hat seit damals den Status des Überraschungskandidaten inne. Einst war das Land an der Adria das Fußballland Nummer eins, das Ziel vieler junger Spieler, um den Durchbruch zu schaffen. Heute ist man aber weit davon entfernt. Den spektakulären Fußball, die hohen Siege, die sieht man anderswo. Und deswegen ist auch Italiens Nationalmannschaft bei Großereignissen kein Titelfavorit mehr. Aber trotzdem ein Kandidat, der für die vorderen Ränge gut genug ist - das bewiesen sie beim 2:0 über Gruppenfavorit Belgien.
Der große Zwist zwischen Conte und Italien
Was Italien auszeichnet: eine organisierte, clevere Defensive. Stabilität und Ruhe sind die Zauberwörter der Italiener. Nicht einmal die Tatsache, dass der "commissario tecnico" Antonio Conte vor zwei Monaten angekündigt hat, nach der EM den FC Chelsea zu betreuen, stört die Squadra Azzurra. Auch nicht, dass der Grund für Contes Abschied das lodernde Feuer zwischen ihm und dem eigenen Verband ist.
Dass Italien nun einen Trainer hat, von dem man weiß, dass er nach dem Turnier nicht mehr im Amt ist, muss nicht stören. Louis van Gaal holte mit den Niederlanden bei der WM 2014 Platz drei und blamierte den damaligen Titelverteidiger Spanien im ersten Gruppenspiel mit 5:1.
Conte trainierte vor dem Nationalteam drei Jahre lang Juventus Turin (Bilanz: drei Meistertitel) - und vertraut auch als Teamchef noch gerne auf den Turiner Abwehrverbund. Leonardo Bonucci, Andrea Barzagli und Giorgio Chiellini sind die Köpfe des italienischen Abwehrbollwerks. Davor werden viele Italiener heuer nicht nur "Maestro" Andrea Pirlo (von Conte nicht nominiert) vermissen, sondern auch Marco Verratti, der Pirlos Rolle einnehmen hätte sollen, aber verletzt ist. Die Last der beiden legt Conte auf Emmanuele Giaccherini (der gegen Belgien traf), und Rom-Routinier Daniele De Rossi.
Wer wird die Tore machen?
Schlussendlich wird es in den Händen der Offensive liegen, aus Italien mehr als nur einen Überraschungskandidaten zu machen. Der umtriebige Italo-Brasilianer Eder Citadin Martins und Graziano Pelle verliehen der viel kritisierten italienischen Offensive gegen Belgien neue Kräfte und machen Lust auf mehr.
Im EM-Titelkampf hat Italien in der Regel keine Chance gegen die Großmächte. Doch genau das macht das Land so gefährlich.
DAVID BAUMGARTNER