Die Enttäuschung? Riesig! „Testspiel-Debakel“ titelte das Magazin „Spiegel“. Von „Fiasko“ sprach die seriöse „Frankfurter Allgemeine Zeitung“. Der Hamburger Erzbischof Werner Thissen empfahl gar Stoßgebete zum heiligen Arbogast, dem Schutzpatron der Fußkranken. Alles lange her.
2006, Deutschlands Fußball-Auswahl war in Italien 1:4 untergegangen. Es war der letzte große Test vor dem WM im eigenen Land. Es folgte das Sommermärchen .Dieses Mal scheint nicht mal Beten zu helfen nach der Niederlage gegen Österreich im Wien. „Nächste Pleite“, schrieb die „Bild-Zeitung“. Die „Berliner Morgenpost“ schrieb sachlich „Die nächste Enttäuschung“. Das Land ist derzeit geübt in Rückschlägen. Folgt nächstes Jahr bei der Heim-EM der nächste Niederschlag?
Leichte Zweifel sind angebracht. Bundestrainer Julian Nagelsmann wirkte leicht ratlos nach dem Spiel. Hatte er nach der Niederlage gegen die Türkei in Berlin noch im Fernsehen und auf der Pressekonferenz über Taktikvarianten sinniert, gab er sich nun zurückhaltender. Es herrscht eine gewisse Stille nach dem Schuss im Land.
Fußball als Spiegelbild
Der Fußball galt immer ein wenig als Spiegelbild der deutschen Entwicklungen. Und zwar seit 1954. Da gewann Deutschland in Bern erstmals den Titel bei einer Männer-Fußball-WM. (Im Halbfinale gab’s übrigens ein 6:1 gegen Österreich, Ehrentreffer Erich Probst). Seither ist der Fußball fest mit der Gesellschaftsgeschichte verwoben. Der Publizist Joachim Fest sprach von jenem 4. Juli als „eigentlichem Gründungsakt der Bundesrepublik“. Wie passend, dass es zum WM-Erfolg für die Spieler weiße Schiesser-Unterwäsche gab. Nur keine Flecken auf der Geschichte. Radioreporter Herbert Zimmermann (übrigens der Onkel des Grünen-Politikers Hans-Christian Ströbele) war begeistert und jubelte zum Auftakt seiner Übertragung: „Wir haben heute die beste Rundfunkkabine. Aber das ist ja auch begründet. Wir sind ja schließlich im Endspiel.“
Deutschland war also zurück nach der Niederlage im Krieg. Und der Fußball plötzlich gesellschaftspolitisch wichtig. So werden viele Parallelen gezogen. Günther Netzer etwa wechselte sich 1973 im Pokal-Finale selbst ein in die Partei. Ein Hauch der Selbstermächtigung der 68er. Und sein langes Haar galt vielen als Beleg der neuen Offenheit der Bundesrepublik unter ihrem ersten SPD-Kanzler Willi Brandt. Und leitete Hans Krankl mit dem Tor von Cordoba nicht nur das Ende eines bleiernen Angestellten-Fußballs im Land, sondern auch den Abstieg des Verwalters Helmut Schmidt ein? In Deutschland liebt man solche gesellschaftspolitischen Doppelpässe.
Das Sommermärchen brachte 2006 eine neue Symbiose zwischen Ball und Politik. Die jubelnde Kanzlerin Angela Merkel im Stadion, begeisternde Zuschauer aus aller Welt. Das wiedervereinigte Land konnte sich den Gästen plötzlich als lockerer Gastgeber präsentieren. So stand der Fußball für ein neues Deutschland. Erst recht der lockere WM-Erfolg von Brasilien 2014. Nicht wenige glauben, die Leichtigkeit, mit der sich Deutschland damals durchs Turnier spielte, habe später im Flüchtlingsherbst 2015 auch seinen Anteil an der Anziehungskraft des Landes gehabt.
Es rumpelt im Land
In der Migrationspolitik hat die Bundesregierung längst eine Wende vollzogen. Auch beim Fußball rumpelt’s. Wie überhaupt im Land. Die Auto-Industrie steckt in der E-Mobility-Krise, die Bahn muss marode Strecken sanieren und die Berliner Verkehrs-Gesellschaft (BVG) muss den Fahrplan strecken, es fehlt schlicht an geeignetem Personal. Das ist auf dem Feld eigentlich vorhanden. Doch fehlt der Team-Spirit. Schon mahnen Altvordere wie Lothar Matthäus, WM-Kapitän 1990, die Rückkehr zu alten Tugenden: Kampf statt Technik.
Dazu passt, dass der Fußball gerade in eine gesellschaftspolitische Debatte hineinschlittert. Bei den Jüngsten im Jugendbereich will der Deutsche Fußball-Bund die Tabellen abschaffen. Es gehe ums Spiel nicht ums Gewinnen, so der Verband. Vor fehlender Siegermentalität warnen die Kritiker. (Auch die Leichtathletik hat sich vom Siegen verabschiedet. Die Bundesjugendspiele, ein jährlicher Schul-Wettkampf mit Ehren- und Siegerurkunden, wird entschlackt. Künftig wird auch das Engagement bewertet. ) Kulturpessimisten fürchten den Niedergang.
Eins scheint gewiss. Das Sommermärchen wird sich so nicht zu wiederholen. Zumindest, was die Anstrengungen der Public Diplomacy angeht. Ein Märchen ist eben einmalig. Und gute Stimmung auf den Straßen für die Außeninszenierung des Landes lässt sich eben nicht inszenieren. Sportlich kann’s vielleicht noch was werden. Nationaltrainer Julian Nagelsmann, 36, ist der jugendliche Typ Projektmanager. Ziel definiert, Plan gemacht, Umsetzung wird durchgezogen. „Ich bin da dran“, heißt das nicht nur auf den Unternehmensfluren in der Sprache der Jugend. Hat übrigens in der Auto-Industrie ganz gut geklappt. Die deutschen Autobauer melden steigende Absätze. Bei E-Autos! Fehlt nur noch die Beschleunigung auf dem Fußballfeld.