Grundordnung Spanien: Die Spanier agieren in einem 4-3-3. Man kann es aber auch als ein 4-1-4-1 interpretieren, weil Rodri der alleinige Sechser vor der Abwehr ist und sich Fabian Ruiz sowie Dani Olmo in den Halbräumen als Achter bzw. Zehner bewegen. In allen Mannschaftsteilen ist eine ganz klare und strukturierte Aufteilung zu erkennen.
Grundordnung England: Bei den Engländern wird gerne von einem 3-4-2-1 gesprochen. Ich bin jedoch der Meinung, dass sie wie Spanien in einem 4-3-3 bzw. 4-1-4-1 auftreten. Sie haben jedoch nicht so eine saubere Positionierung mit genauen Abständen im Mittelfeld.
Spaniens Spiel gegen den Ball: Sie versuchen den Gegner sehr hoch unter Druck zu setzen und ihm keine Zeit für einen kontrollierten Spielaufbau zu geben. Das spiegelt sich auch im PPDA (Passes Per Defensive Action)-Wert wider. Dieser misst die Anzahl der Pässe, bis das andere Team wieder in Ballbesitz kommt. Mit 9,8 Pässen der Gegner bis zum eigenen Ballbesitz weisen die Iberer einen Topwert auf – nur Österreich war hier noch aggressiver. Dafür hat Spanien sehr disziplinierte, aggressive Spieler, die den Gegner mit höchster Geschwindigkeit unter Druck setzen. Es nimmt sich keiner heraus, auch nicht die Flügelspieler Lamine Yamal oder Nico Williams, die ihre Stärken eigentlich in der Offensive haben.
Englands Spiel gegen den Ball: Die „Three Lions“ würden es gerne so gut machen wie die Spanier, scheitern aber an der Umsetzung, wie es gegen die Niederlande im Halbfinale zu sehen war. England wollte vorne zustellen, aber die Elftal konnte sich oft durchkombinieren, weil das Southgate-Team nicht geschlossen und synchron genug gepresst hat. Wenn sie dieses Problem nicht in den Griff bekommen, haben sie gegen Spanien riesige Probleme, weil die „Furia Roja“ mindestens so gute Fußballer und noch mehr Speed auf den Außenbahnen in ihren Reihen hat wie die Niederlande. Um dieses Risiko zu minimieren, erwarte ich einen tieferen Block Englands, mehr Mittelfeldpressing und maximal punktuell hohes Anlaufen. Zwar gibt es mit Kyle Walkers Geschwindigkeit in der Restverteidigung eine Lebensversicherung, da er fast jeden Spieler einholen kann. Bei Williams und Yamal könnte es aber diesbezüglich eng werden.
Spaniens Spiel mit dem Ball: Klassisches und sauberes Positionsspiel der spanischen Schule mit sehr wenigen Ballkontakten und tollem Spielrhythmus zeichnet sie aus. Torhüter Unai Simon geht sehr viel Risiko bei der Spieleröffnung ein – mitunter streut er flache 50-Meter-Pässe auf Alvaro Morata ein, die auch gerne einmal abgefangen werden. Rodri ist DER Dreh- und Angelpunkt im Spielaufbau. Das vorrangige Ziel der Spanier ist es, den Ball in die Halbräume zu Ruiz und Olmo zu bringen. Im letzten Drittel gilt es dann, das Tempo zu verschärfen und Yamal und Williams in Szene zu setzen. Es sind ganz klare Muster mit nahezu perfekter Positionierung zu erkennen. Spaniens Spielintelligenz ist überragend – für mich das Alleinstellungsmerkmal dieser EM.
Englands Spiel mit dem Ball: Declan Rice lässt sich gerne zwischen die Innenverteidiger fallen, um den Aufbau zu initiieren. Auch Jude Bellingham rückt gerne weit zurück. Das ist der große Unterschied zu Spanien. Der englische Spielmacher darf sich ganz frei bewegen, ist sogar teilweise der tiefste Mittelfeldspieler. Das ist bisweilen nicht zielführend, da der Gegner kaum darauf reagieren muss. Der im Laufe der EM zum Stammspieler beförderte Kobi Mainoo bringt viel Dynamik ins Spiel, ist technisch stark, kreativ und kann auch Situationen im 1:1 lösen. Der 19-jährige Box-to-Box-Spieler ist ein erfrischendes Element und tut England augenscheinlich gut. Mit Walker und Luke Shaw, der den Vorzug gegenüber Kieran Trippier kriegen könnte, gibt es zwei Außenverteidiger mit großem Offensivdrang. Walker ist mit seiner Geschwindigkeit geradezu prädestiniert dafür. Shaw gehört die Linie quasi allein, weil der nominell linke Flügel Bellingham als zweiter Akteur auf der Halbposition neben Phil Foden ins Zentrum wandert. So bleibt für Shaw viel Platz für Flanken. England ist auf die individuelle Klasse seiner Offensivreihe angewiesen. Es kommt auf Geniestreiche von Foden, Bellingham und Bukayo Saka an, die auch Goalgetter Harry Kane in Stellung bringen können. Ob das gegen Spanien reicht, ist die Frage.
Fazit zum EM-Finale: Es wird ein rasantes, sehr physisches Spiel. Ich erwarte sehr kompromisslos geführte Zweikämpfe. Kapitale individuelle Fehler müssen zwingend vermieden werden, da sie oft enge Finalspiele entscheiden. Dementsprechend hat die Mannschaft, die mit mehr Lockerheit ins Finale geht, die besseren Karten. Es steht für beide Nationen viel auf dem Spiel. Die Engländer müssen endlich einen Titel gewinnen. Die Spanier haben alle sechs EM-Spiele gewonnen, auch gegen Topnationen wie Kroatien, Italien, Deutschland und Frankreich. Das gilt es jetzt noch einmal umzusetzen. Mein Favorit ist Spanien. Und auch mein romantisches Fußballerherz sagt, dass die beste Mannschaft auch im letzten Spiel dieses Turniers als Sieger vom Feld gehen sollte.
Julian Baumgartlinger