Berlin, 14. Juli, 23 Uhr 28, Marko Arnautovic stiefelt gemächlich vom Mittelkreis Richtung Elfmeterpunkt. Seine tätowierten Oberschenkel sind mit Grasnarben gesprenkelt. Es ist wie ein Gang zum Schafott, und obwohl er ein entschlossenes Arnie-Gesicht macht, sind die Knie weich wie gekochtes Hühnerfleisch. Sein Team steht umarmt an der Mittellinie, manche mit geschlossenen Augen, jubelfertig, andere voller Gebete, die sie in die Berliner Nacht schicken. Während Österreichs Nummer Sieben sich den Ball zurechtlegt, hält die Welt den Atem an. Es steht 3:3, weil Posch nur die Latte traf, Pentz aber die Versuche von Kroos und Rüdiger weggrinste. Der slowakische Schiedsrichter greift zur Pfeife. Er steht da wie ein Mensch von der Landwirtschaftskammer, der gerade befiehlt, hunderte Tiere abzuschlachten. Arnautovic läuft an. Er könnte nach rechts schießen, weil er meint, dass sich Neuer nach links wirft. Er könnte aber auch nach links schießen, weil er denkt, dass der Torwart einen Schuss nach rechts erwartet. Oder er denkt, Neuer denkt, er denkt, der Torwart denkt, er denkt und so weiter. Jedenfalls folgt der alles entscheidende Abschluss eines berauschenden Turniers.
Österreich hat im Spiel gegen die Bosborussen nicht getürkt und den Kebap verputzt wie eine Leberkäsesemmel, woraufhin fünfzigtausend fanatischen Deutschtürken die Schreie im Exil ihres geistigen Horizonts, nein, im Hals steckengeblieben sind wie Honigtriefendes Baklava. Anschließend hat uns der suboptimale Auslosungsmodus kein neuerliches Duell mit den Niederlanden beschert, sondern Rumänien. Es gab eine Schrecksekunde mit einer nicht natürlichen Verbreiterung des Querfeld-Körpers im Strafraum, aber letztlich haben wir den Karpaten-Brasilianern den Zahn gezogen, waren die wie Überschwemmungsgelsen lästigen Österreicher den Draculoris zu viel. Im Halbfinale dann die Schweiz, die ihr mit schweren Tresoren geschütztes Gold in Sicherheit wähnte. Aber ein Stoffel stibitze ihnen die Toblerone und ließ sie so hilflos aussehen wie Joe Biden im TV-Duell. Und jetzt Elfmeterschießen im Finale.
Österreich Europameister? Es ist nicht sehr wahrscheinlich, aber auch nicht ganz auszuschließen. Und danach? Alle gehen mit leuchtenden Augen und einem Dauergrinser in den Tag. Jeder ist froh, es erlebt zu haben. Die Spieler bleiben sympathisch bescheiden und die Fans erfreulich demütig. Sogar die unterlegenen Deutschen freuen sich mit uns. Ein kollektiver, aber von keinem nationalistischen Geschlader verunreinigter Rausch. Rangnick und sein Team übernehmen die Regierung, und Österreich wird endlich das, was es immer schon hätte sein können, die beste aller Welten. Leider nur ein Traum. Nicht wahr? Schaun ma mal.
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