Es fällt speziell als Österreicherin gerade etwas schwer, nach absolvierter Gruppenphase einmal kurz zurückzublicken und eine Halbzeitbilanz zu ziehen. Warum? Weil wir alle wahrscheinlich nur nach vorne schauen, uns nach dem spektakulärem Auftritt gegen die Niederlande noch immer die Augen reiben und möglicherweise immer noch in den Armen liegen. Wir sind in der sogenannten „Todesgruppe“ nicht bloß weitergekommen, wir haben sie gewonnen. Österreich ist Gruppenerster. Wir sind die Überraschung dieser Europameisterschaft. Unsere Bilder, unsere Fangesänge bleiben in ganz Europa hängen – verbunden mit großen und absolut berechtigten Lobeshymnen für Ralf Rangnick. Ich bin mir sicher: Unterschätzt hat uns wahrscheinlich niemand, aber spätestens jetzt hat jede und jeder Österreich auf dem Zettel.

Dabei sah es nach dem ersten Spieltag so aus, als liefe bei dieser Euro alles wie erwartet. Frankreich besiegte uns. Und auch fast alle anderen Favoriten starteten mit einem Erfolg. Alles deutete auf ein Turnier der Großen hin. Doch dann drehten die vermeintlich Kleineren auf und das Blatt wendete sich. Ich gebe zu: Ab dem zweiten Spieltag lief auch für mich vieles anders als erwartet. Besonders die Engländer konnten mich fußballerisch gar nicht überzeugen. Und dennoch ziehen sie ins Achtelfinale ein. Genauso wie Belgien, die Niederlande und Italien, die bisher alle sehr zu kämpfen hatten.

Es ist schon interessant zu beobachten, dass mit Spanien nur eine Mannschaft die vollen neun Punkte holen und auch in allen drei Partien voll überzeugen konnte. Mit ganz wenigen Abstrichen ist auch Deutschland stark aufgetreten. Dass ausgerechnet diese beiden Teams nun möglicherwiese schon im Viertelfinale aufeinandertreffen, passt zu dieser spektakulären Euro, die ganz sicher noch die ein oder andere Überraschung parat hält.

Es ist das Unerwartete, das uns diese Euro so unglaublich leidenschaftlich verfolgen lässt. Ich habe das Gefühl: Ganz viele Menschen haben schon in der Vorrunde so viele Spiele gesehen wie schon seit Jahren nicht mehr. Und es ist schon jetzt zur Hälfte deutlich spürbar: Unser europäischen Gemeinschaft tut ein Turnier im Sommer so viel besser als im Winter. Diese Euro ist völlig unabhängig von ihrem sportlichen Ausgang endlich mal wieder ein Fest des Fußballs.

Carina Wenninger (33) hat 127 Mal für das österreichische Nationalteam gespielt und wurde mit dem FC Bayern und der AS Roma Meister.

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