Österreich hat sein Auftaktspiel leider 0:1 verloren. Die allgemeine öffentliche Wahrnehmung ist jedoch, dass das ÖFB-Team dem haushohen Favoriten mehr als anständig Paroli geboten hat. Beeindruckend war, dass die Franzosen Respekt vor Österreich hatten. Überragende Fußballer wie Adrien Rabiot oder Antoine Griezmann haben nicht einfach offensiv die Bälle nach vorne angenommen, weil sie ganz genau wussten, dass Österreich im Gegenpressing sehr gefährlich ist.
Es gab aber Gründe, warum die Sensation nicht gelang. Zu selten konnte sich das ÖFB-Team um den gegnerischen Strafraum festsetzen. Die meisten Umschaltversuche scheiterten am letzten Pass. Oft wurde im letzten Drittel nicht die richtige Entscheidung getroffen. Zu oft wurde versucht, sich durchs Zentrum Frankreichs zu kombinieren, wo aber mit N‘Golo Kanté und William Saliba, die überragenden Feldspieler an diesem Abend, kein Vorbeikommen war. Auch die Standards fanden meist nur französische Abnehmer.
Dennoch waren viele Elemente, die das österreichische Spiel in den vergangenen zwei Jahren erfolgreich gemacht haben, zu erkennen: Hohe Intensität, ein riesiger Aufwand, der betrieben wurde, sowie Phasen des erfolgreichen Aufbauspiels von einem hervorragenden Patrick Pentz bis in die letzte Kette. Dass auch unglückliche Momente und individuelle Unzulänglichkeiten passiert sind, darunter auch die Entstehung des 0:1, geben Anlass zu Überlegungen, wie die Mannschaft gegen Polen auftreten soll – einerseits personell, andererseits auf den Matchplan bezogen. Ich denke, dass man jetzt auf Beharrlichkeit und Kontinuität setzen und weiter der fußballerischen Identität treu bleiben sollte. Aus leidvoller Erfahrung stellten sich nämlich bei der EM 2016 nach der 0:2-Auftaktniederlage gegen Ungarn die Abkehr taktischer und personeller Eckpfeiler, die uns davor erfolgreich machten, als Fehler heraus.
Das Spiel gegen Polen hat vorentscheidenden Charakter in dieser Gruppe und ist der erste Schlüsselmoment dieser EM für Österreich. Bringt man eine ähnliche Leistung wie gegen Frankreich und verbessert die Zielstrebigkeit im letzten Drittel, ist ein Sieg und eine gute Ausgangsposition vor dem Spiel gegen die Niederlande sehr realistisch. Daher bleibt zu hoffen, dass das ÖFB-Team, das mit Negativergebnissen schon länger nicht mehr umgehen musste, sich treu bleibt und durch die Drucksituation zu keinen Experimenten hinreißen lässt. Ralf Rangnick und sein Team haben aber bereits bewiesen, dass Bedacht und Prinzipientreue eine Tugend sind.
Julian Baumgartlinger, Ex-ÖFB-Teamkapitän, bestritt 84 Länderspiele für Österreich und nahm 2016 und 2021 an der Fußball-EM teil. Er spielte für 1860 München, Austria Wien, Mainz, Leverkusen und Augsburg. Seit 2023 als Sky-Experte tätig.
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