Grundordnung: Gewohnt treten die Franzosen in einem 4-3-3 auf. Keine Mannschaft hat so viele Akteure, die ohne Qualitätsverlust rotiert werden können. Dementsprechend variabel können sie agieren.
Spiel gegen den Ball: Die Franzosen haben ihre Identität nicht im Pressing und variieren die Höhe des Angriffsblocks über den Spielverlauf. Weil sie dank ihrer hohen individuellen Qualität oft viel Ballbesitz haben, ist die Arbeit gegen den Ball definitiv nicht ihre Lieblingsaufgabe. Sie greifen situativ ganz vorne an und versuchen dann, im letzten Drittel in Ballbesitz zu kommen. Ist Kylian Mbappés oder Ousmane Dembélés erster Pressinganlauf nicht erfolgreich, nimmt deren Defensivaktivität deutlich ab. Daraus resultieren Phasen, in denen sie tiefer stehen und den Ballbesitz dem Gegner überlassen. Denn auch tiefe Balleroberungen sehen die Franzosen als Chance, die Geschwindigkeit ihrer pfeilschnellen Offensive in Konterchancen umzumünzen. Im Zentrum gewinnt Frankreich am liebsten und häufigsten den Ball. Mit ihren Balljägern Aurélien Tchouaméni, Eduardo Camavinga, Adrien Rabiot und N’Golo Kanté sowie ihrer physisch herausragenden Innenverteidigung wird die Hauptarbeit gegen den Ball erledigt. Frankreich hatte in der EM-Quali im Vergleich zu Österreich, Polen und Niederlande die meisten hohen Balleroberungen im letzten Drittel. Erobert man den Ball, nutzt man die Unordnung des Gegners dank ihrer individuellen Klasse schonungslos aus. Das zeichnet Spitzenmannschaften aus.
Spiel mit dem Ball: Frankreich identifiziert sich stark über seine Einzelspieler, die enorme fußballerische und athletische Fähigkeiten aufweisen. Es gibt kaum einen Kader, der auf allen Positionen so breit aufgestellt ist. Positionen und Aufgaben sind an keine starren Vorgaben gebunden. Es bleibt Raum für Freiheit, Kreativität und Geniestreiche. Passschemata oder klare Angriffsmuster sind nicht vorgegeben, sondern entstehen situativ. Auffällig ist die linkslastige Auslegung. Das Duo Theo Hernandez und Kylian Mbappé kommt mit brutaler Wucht und Dynamik über diese Seite. Gegenüberliegend gibt es mit Ousmane Dembélé oder Marcus Thuram Spieler, die für die Breite im Spiel sorgen, gerne an der Seitenlinie bleiben und im Dribbling ins 1:1 gehen. Antoine Griezmann agiert als Spielmacher und echter Freigeist. Er ist der Entwicklungsspieler in Umschaltmomenten, spielt Bälle mit wenigen Kontakten perfekt in die Tiefe und rückt dann selbst in den Strafraum nach, um torgefährlich zu werden. Bei den Stoßstürmern gibt es die Qual der Wahl: Mit Randal Kolo Muani, Marcus Thuram oder Olivier Giroud stehen Topleute zur Verfügung. Im Mittelfeld ist Rabiot der Taktgeber und das Verbindungsstück zwischen Abwehr und Angriff. Kante ist auch nicht nur ein Balljäger, er kann das Spiel eröffnen und könnte der Überraschungsstarter gegen Österreich sein.
Schwächen: Bei dieser Mannschaft von Schwächen zu sprechen, ist schwierig. Jedoch gibt es Momente, die von Gegnern genutzt werden können. Weil Mbappé sehr ungern nach hinten arbeitet, entstehen in seinem Rücken immer wieder Löcher. Dadurch können Gegner Überzahlsituationen auf dem eigenen rechten Flügel schaffen. In der Innenverteidigung hat Dayot Upamecano beim FC Bayern keine einfache Zeit hinter sich. Er fiel öfters mit riskanten Pässen und einfachen Fehlern auf. Nachdem es eine große Stärke Österreichs ist, den Ball hoch zu gewinnen und solche Bälle abzufangen, bleibt abzuwarten, ob er spielt. Die hohe Variabilität und Freiheit im eigenen Spiel sowie das Vertrauen, gefährliche Situationen rein individuell auszubessern, kann gut organisierten und kompakt agierenden Gegnern Schlüsselmomente ermöglichen.
Schlüsselspieler: Mbappé ist einer der besten Fußballer der Welt, ein echter Unterschiedsspieler. Antoine Griezmann ist der Fixpunkt der Équipe Tricolore. Mit gutem Grund. Auf den ersten Blick sieht schmächtig aus, ist auch nicht der Schnellste. Jedoch hat er ein gutes Auge, tolle Antizipation, kann den letzten Pass spielen und hat eine unglaubliche Abschlussqualität mit eingebautem Torriecher. Eine Schlüsselrolle kommt auch dem 6er zu, der für die Absicherung zuständig ist. Dafür kommen Tchouaméni, Kanté, aber auch Camavinga in Frage. Wer diese Position einnimmt, ist für die Balance innerhalb er Mannschaft zuständig. Gesetzt ist für mich William Saliba. Der Arsenal-Spieler ist einer der besten Innenverteidiger der Welt, physisch und fußballerisch gesegnet. Letztlich muss man neidlos anerkennen, dass bei den Franzosen jeder Einzelne Spiele entscheiden kann.
Fazit zum EM-Start: Frankreich ist der Turnierfavorit. Der Druck ist daher groß, was für Österreich gut sein kann. Die Franzosen müssen beweisen, dass sie der Gruppenprimus sind. Gegen ein unangenehmes Österreich kann es gleich zu Beginn spannend werden. Da Frankreich über Österreichs Stärken Bescheid weiß, ist es möglich, dass Griezmann eine Art falsche 9 spielt und dafür ein defensiver Mittelfeldspieler mehr in die Startelf rückt. Eines ist aber klar: Kommen die Franzosen ins Laufen, sind sie fast nicht aufzuhalten.
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Julian Baumgartlinger