Magier, Mentor, Maestro - die italienischen Medien überschlugen sich mit den Huldigungen von Erfolgstrainer Roberto Mancini nach Italiens erstem Europameistertitel seit 1968. Doch bei all den übermenschlichen Fähigkeiten, die dem Teamchef der Squadra Azzurra weitestgehend zurecht zugeschrieben werden, vergisst man oft einen anderen Aspekt. Mancini ist als Cheftrainer vielmehr ein akribischer Arbeiter, als ein sagenumwobener Zauberer. Auch, wenn man ihm die gewisse Prise Magie nicht absprechen kann.
Denn als der ehemalige Trainer von Inter Mailand und Manchester City im Mai 2018 eine am Boden liegende italienische Nationalmannschaft übernahm, ließ die sofortige Trendwende auf sich warten. Auf einen schmeichelhaften 2:1-Sieg über Saudi-Arabien bei seiner Premiere, folgten in freundschaftlichen Tests ein 1:3 gegen Frankreich und ein 1:1 gegen die Niederlande. In der Nations League verpatzte die Tifosi Mancinis-Auftakt mit einem 1:1-Remis gegen Polen und einer 0:1-Niederlage gegen Portugal. Kaum ein italienischer Fußball-Experte wagte zu träumen, dass es bis heute die letzte Niederlage unter Mancini bleiben sollte. "Italien ist noch nicht aufgewacht" titelte die La Gazzetta dello Sport. "Zu viele Wechsel, und die Ideen fehlen noch", kritisierte "Il Corriere dello Sport" nach der Niederlage am 10. September 2018.
Weckruf und frischer Wind
Während die Medien damals also auf einen Weckruf warteten, hatte der Teamchef schon einen fixen Plan für seine Mannschaft, die diesen zunächst nur belächelte. "Wir haben ihn anfangs für verrückt gehalten, als er uns gesagt hat, dass wir uns in den Kopf setzen sollen, die EM zu gewinnen", erklärte Kapitän Giorgio Chiellini über die Anfangszeit im Sommer 2018. Verrückt sollte in weiterer Folge jedoch nur die unheimliche Serie der Squadra Azzurra werden. Mancini impfte der Star-Truppe ein neues Selbstverständnis ein. Trotz anfänglicher Kritik stellte er auf ein variables 4-3-3 um, entfernte die letzten Geschwüre des über Jahrzehnte bekannten Catenaccio und hörte nicht auf, an einem offensiven, attraktiven und vor allem erfolgreichen Fußball zu arbeiten. "Er hat es uns nach und nach eingebläut, bis es schließlich Realität wurde", gesteht Chiellini.
Neben der neuen Spielidee brachte Mancini auch frischen Wind in den Kader - zu Beginn nicht ohne Kritik. Emerson, Giovanni Di Lorenzo, Manuel Locatelli, Nicolo Barella, Matteo Pessina und Domenico Berardi feierten unter ihm ihr Debüt im Nationalteam und zählen mittlerweile zu fixen Bestandteilen im Kader. Drei von ihnen standen im Finale sogar von Beginn an auf dem Platz und hatten maßgeblichen Anteil am zweiten EM-Titel des viermaligen Weltmeisters. Dabei scheute er auch nicht davor zurück, absolute Top-Teams außen vorzulassen. Barella spielte bei seiner Team-Premiere etwa in Cagliari, Locatelli derzeit in Sassoulo.
Mit Schweiß zum tränenreichen Erfolg
Der Titel markiert somit nicht nur eine neue Zeitrechnung im italienischen Fußball. Für den 56-jährigen Mancini ist es der bisher wohl größte Erfolg einer langen Trainerkarriere. "Der Titel ist für alle Fans wichtig. Ich hoffe, alle feiern in Italien. Wir sind jetzt gerade einfach nur glücklich", gestand der aus Jesi stammende Italiener nach dem Finalsieg unter Tränen.
Bemerkenswert: Bekam Mancini Zeit, sich als Trainer zu entfalten, ließ auch der Erfolg nicht lange auf sich warten. In knapp vier Jahren (2004 bis 2008) bei Inter Mailand gab es in 226 Spielen nur 26 Niederlagen, einen Punkteschnitt von 2,12 und drei Meistertitel. Mit Manchester City feierte er in dreieinhalb Jahren (2009 bis 2013) eine Meisterschaft und 113 Siege in 191 Partien.
In den letzten Jahren wurde es aber ruhiger um den Trainer. Der Sprung von Zenit St. Petersburg auf den wichtigsten Trainersessel im italienischen Fußball kam für viele überraschend, der Titel drei Jahre später ebenso. Und wer nun glaubt, Mancini würde sich nach seinem größten Erfolg zurücklehnen, der dürfte gleich die nächste Überraschung präsentiert bekommen. Der Squadra Azzurra könnte eine zauberhafte Zukunft bevorstehen - auch mit Hinblick auf die Weltmeisterschaft in eineinhalb Jahren.