Dem Rest Europas einige Wochen voraus, findet sich Großbritannien dieser Tage mitten im Kampf gegen „Delta“ – die zuerst in Indien identifizierte und bislang bedrohlichste Covid-Variante (B.1.617.2), und dies begibt sich kurz vor dem Achtelfinale der Fußball-EM zwischen Italien und Österreich in London. Die Infektionszahlen steigen stetig. Mit Sorge wird verfolgt, in welchem Maße sich die Zahl der Covid-Patienten erhöht. Skeptiker fürchten, dass die Lage unter ungünstigen Umständen so schlimm werden könnte wie im Jänner dieses Jahres, als fast 40.000 Covid-Patienten in den Kliniken lagen. Optimisten glauben dagegen, eine Abflachung der Kurve der täglichen Ansteckungen auszumachen. Man könne nicht einmal von einer „dritten Welle“ reden.
Tatsächlich sieht sich das Land, in dem 82 Prozent aller Erwachsenen mit einer ersten Dosis und 60 Prozent vollständig geimpft sind, bei der Abwehr von „Delta“ in einer wesentlich stärkeren Position als vorher. Das war schon klar, bevor „die Indische“ sich im Königreich breitmachte (wo sie heute für 99 Prozent aller Neuinfektionen verantwortlich sein soll).
Im Laufe des Mai sank die Zahl der täglichen Neuinfektionen, die einmal bei 60.000 gelegen hatte, auf weniger als 2000. Die Zahl der Neueinlieferungen in die Kliniken fiel unter die 100er-Marke. Und am 1. Juni wurde erstmals kein Todesfall mehr gemeldet, im gesamten Königreich.
Der Druck steige
Einen „gloriosen“ Sommer hatte die Regierung der Bevölkerung im Frühjahr versprochen, mit schönen Urlaubsreisen und immer weniger Restriktionen. Neuerdings wird von den verunsicherten Bürgern aber „noch ein bisschen mehr Geduld“ verlangt. Denn mittlerweile ist wegen der „Delta“-Variante die Zahl der gemeldeten täglichen Neuansteckungen auf rund 16.000 gestiegen. Auch die Zahl der Patienten und der Toten zieht wieder an. Englands Klinik-Betreiber berichteten, dass die Zahl der Covid-Patienten, die künstlich beatmet werden müssen, im Vergleich zur Vorwoche um 41 Prozent gestiegen ist. Der Druck steige, heißt es.
Auf jeden Fall bestehe „das Risiko einer erheblichen dritten Welle“, meinte erst jüngst der prominente Covid-Forscher Neil Ferguson vom Imperial College London. Fergusons Kollege Jeremy Brown, Professor am University College London, sieht vor allem Gefahr für Stadtteile und Kreise in ärmeren Gebieten, in denen weniger Mitbürger sich haben impfen lassen. An solchen Orten könne die Krise „an das herankommen, was wir hier erlebt haben im Jänner“.
Kritik an Johnson
Dass die noch immer enge Verbindung Großbritanniens zur Ex-Kolonie Indien bei der raschen Verbreitung der „Indischen“ im Vereinigten Königreich eine Rolle spielte, bestreitet kaum jemand auf der Insel. Insbesondere wird Premierminister Boris Johnson vorgeworfen, dem Vordringen der Variante nicht rechtzeitig Einhalt geboten zu haben. Schon als die Gefahr deutlich gewesen sei, klagen Kritiker, seien 20.000 Menschen aus Indien praktisch unkontrolliert eingereist.
Leichtfertigkeit wird der Regierung von Kritikern auch jetzt wieder vorgeworfen. Viel Unmut hat Johnsons Entscheidung ausgelöst, auf Drängen der UEFA die erlaubte Zuschauerzahl bei den letzten drei Euro-2020-Spielen im Wembley-Stadion, also den zwei Halbfinalpartien und dem Finale, auf jeweils 60.000 hochzuschrauben, und 2.500 offiziellen Gästen aus Europa zusätzlichen Zugang zu verschaffen. Für Fans aus dem Ausland gibt es nach derzeitigem Stand allerdings keine Möglichkeit, ihre Teams vor Ort live zu verfolgen. An eine Verlegung der Matches, wie es schon kolportiert wurde, ist aber vorläufig weiterhin nicht gedacht.
„Ich würde das nicht mal eine dritte Welle nennen“
Unterdessen schätzen manche Experten die Gefahr zumindest für die einheimische Bevölkerung heute nicht mehr als ganz so groß ein wie ihre pessimistischeren Kollegen. Relativ zuversichtlich gibt sich zum Beispiel Professor Brendan Wren, ein Impfspezialist der Londoner Schule für Hygiene und Tropenmedizin. Wren verweist auf eine „bereits sichtbare Abflachung“ beim Zuwachs der Neuinfektionen. „Ich würde das nicht mal eine dritte Welle nennen“, meint der Londoner Impfologe. Andere Forscher sprechen von einer „möglichen Mini-Welle“ im Juli und August.
Spätestens auf den Winter hin wird freilich von allen Seiten eine weitere ernste Krise fürs Gesundheitswesen erwartet, weil sich dann, vor allem bei Verzicht auf soziale Distanzierung, erstmals Grippe- und Covidviren gefährlich vermengen könnten.
Einen „harschen Winter“ hat selbst Premier Johnson der Nation vorausgesagt. Möglicherweise, meint die Anti-Covid-Chefin der englischen Gesundheitsbehörden, Susan Hopkins, „werden wir im Winter erneut Lockdowns verhängen müssen“. Auch Gesundheitsminister Hancock will das nicht grundsätzlich ausschließen: „Natürlich hoffe ich, dass es dazu nicht kommt.“
Er werde jedenfalls alles daran setzen, mit „Booster-Shots“, mit einer umfassenden neuen Impfrunde im Herbst, die Gefahr zu verringern, versichert Hancock. Erforscht wird bereits, ob die am meisten gefährdeten Bürger dann beim dritten Impfgang gleichzeitig gegen Grippe und gegen Covid geimpft werden könnten, wobei der Covidimpfstoff bis dahin weiter entwickelt und auf neue Varianten eingestellt sein soll.