Knapp ein Jahr ist es her, als Ende Juli in Brüssel tagelang und nächtelang über das EU-Budget und die Milliardenbeträge für den Neuaufschwung nach der Pandemie verhandelt wurde. Mehrmals stand das Treffen vor dem Scheitern, bis schließlich doch der Durchbruch gelang. Das Spiel wiederholte sich beim Dezember-Gipfel, der die Beschlüsse formal auf den Weg bringen sollte. In beiden Fällen lag das an zwei Ländern und einem Streitpunkt: Ungarn und Polen legten ihr Veto ein, weil sie mit einer Sache nicht einverstanden waren – dem Rechtsstaatsmechanismus.
Mit vielen Verrenkungen und Verbiegungen ließen sie sich doch darauf ein. Vereinfacht gesagt sieht das mittlerweile rechtsgültige System vor, dass die EU Gelder einbehalten kann, wenn sich das Empfängerland nicht an rechtsstaatliche Grundsätze hält. Gemeint war damals vieles, doch konkret geht es dabei um den Haushalt, also das Geld – und nicht, wie es heißt, „allgemeine Missstände“.
Der aktuelle ungarische Anlassfall hat aus Brüsseler Sicht zwei Ebenen: eine rein juristische und jene, die sich am ehesten mit den „europäischen Werten“ beschreiben lässt, bei der die Kommission als „Hüterin der Verträge“ aber auch Möglichkeiten hat, einzugreifen. Präsidentin Ursula von der Leyen nannte das ungarische Gesetz gestern „eine Schande“ und kündigte an, dagegen vorzugehen. Es verstoße gegen „fundamentale Werte der Europäischen Union“ wie Menschenwürde, Gleichheit und den Respekt für Menschenrechte. Doch die Kommission sieht sich bereits selbst mit einer Klagsdrohung konfrontiert, die ausgerechnet das EU-Parlament auf den Weg gebracht hat. Dessen Präsident David Sassoli erinnerte gestern daran, dass die Kommission bei der Umsetzung des Rechtsstaatsverfahrens säumig sei, sie hätte längst schon damit beginnen sollen. Sein Brief an Ursula von der Leyen („Cara Ursula ...“) setzte das Verfahren in Gang. „Wir sind überzeugt, dass es eklatante Verstöße gegen die Prinzipien der Rechtsstaatlichkeit durch bestimmte Mitgliedsstaaten gegeben hat, die sanktioniert werden müssen“, sagte Sassoli. Gemeint waren: Ungarn und Polen.
Langwierige Verfahren mit ungewissem Ausgang
Doch der Rechtsweg ist lang und steinig. Sowohl gegen Ungarn als auch gegen Polen laufen jetzt schon Verfahren nach Artikel 7 wegen Verstößen gegen die Grundwerte; in der Theorie kann am Ende ein Entzug des Stimmrechts stehen, in der Praxis geht in beiden Fällen nichts weiter, zumal sich beide Länder auch über das Einstimmigkeitsprinzip im Rat gegenseitig decken. Gegen Ungarn gibt es derzeit aber auch mehr als 100 „normale“ Vertragsverletzungsverfahren. Viktor Orbán wartet bis zu einer Entscheidung des EuGH und setzte diese dann um; die Zeit, die bis dahin vergeht, kann er als Gewinn für sich verbuchen.
Mittlerweile haben sich 17 Mitgliedsländer – mit einem Tag Verzögerung auch Österreich – in einer Erklärung gegen das ungarische Vorgehen gewandt und fordern die Kommission auf, dagegen vorzugehen. „Grundrechte und Rechtsstaatlichkeit sind nicht verhandelbar“, sagte Europaministerin Karoline Edtstadler (ÖVP). Kritik über das lange Zögern gab es von SPÖ und Neos. Auf die Seite Orbáns schlug sich die FPÖ, die stellvertretende Klubobfrau Susanne Fürst sagte, „das permanente Strapazieren angeblicher ‚Werte der EU‘, um unliebsame politische Initiativen vor allem in Osteuropa zu diffamieren, ist zu verurteilen. Wenn die Mehrheit des demokratisch gewählten Parlaments in Ungarn ein Gesetz beschließt, ist das zu akzeptieren.“ Zu den Ländern, die sich an der Protestaktion nicht beteiligen, gehören Ungarns Visegrad-Partner sowie die südlichen Nachbarn.
Die breite Ablehnung des Gesetzes zeigt sich darin, dass mittlerweile in zahlreichen Ländern öffentliche Gebäude oder Sportstätten in die Regenbogenfarben getaucht sind. Am Donnerstag und Freitag findet in Brüssel der reguläre EU-Sommergipfel statt, es wird erwartet, dass das ungarische Gesetz auch unter den Staats- und Regierungschefs diskutiert wird – neben Migration, Außenpolitik und einer Covid-Bilanz.