„Den FC Bayern charakterisiert seine Gewinner-Kultur. Es fühlt sich sehr gut an, hier zu sein“, strahlte Harry Kane im August 2023 am Tag seiner Präsentation beim deutschen Rekordmeister und schwärmte von einer Mannschaft, die viele Titel gewonnen hat und „Jahr für Jahr Siegermentalität“ beweisen würde.

Elf Mal in Folge hatten die Bayern die deutsche Meisterschaft erobert und im selben Zeitraum auch zwei Mal die Champions League gewonnen sowie fünf Siege im DFB-Pokal eingefahren. Da konnte eigentlich nichts schief gehen, oder?

Nicht einmal der Bayern-Wechsel hilft

Knapp ein Jahr später wissen wir längst, dass es doch schief gegangen ist. Vielleicht gibt es ihn ja wirklich, den viel zitierten „Kane-Fluch“. Denn eigentlich kann man es sich kaum ausdenken, dass die Bayern erstmals seit über einem Jahrzehnt eine titellose Saison hinlegen, wenn „Mr. Titellos“ schlechthin bei ihnen anheuert. Dabei hat der 30-Jährige die Ablöse von knapp 100 Millionen Euro definitiv gerechtfertigt. 44 Pflichtspieltore – 36 in der Bundesliga und acht in der Champions League – sprechen für sich.

Zum vierten Mal in seiner illustren Karriere beendete Kane eine Saison als Torschützenkönig. Mit 66 Toren in 97 Länderspielen führt er längst die Schützenliste der „Three Lions“ an. 280 Pflichtspieltore für Tottenham, 213 davon in der Premier League, unterstreichen den Torriecher von einem der Ausnahmestürmer seiner Generation. Doch bei aller individuellen Brillanz steht im Mannschaftssport Fußball genau dort eine Null, wo sie aus subjektiver Sicht keinesfalls stehen dürfte und am meisten schmerzt.

Vor seiner Bayern-Zeit lautete der erste Reflex gerne, dass man mit Tottenham und England eben keine Trophäe abstauben könne. Nicht, dass er nicht schon die Gelegenheit gehabt hätte. Mit England scheiterte Kane 2021 im Wembley im EM-Finale an Italien. Mit den Spurs zog er im Champions-League-Finale gegen Liverpool den Kürzeren. Nicht einmal der vergleichsweise unbedeutende englische Ligapokal war ihm vergönnt, in beiden Finalteilnahmen ging der Goalgetter als Verlierer vom Feld.

Je länger die Visitenkarte leer blieb, desto mehr fiel dieser Mangel selbstredend auf. Dementsprechend oft musste Kane schon Stellung beziehen. „Ich glaube, es vergeht kein Tag, an dem ich aufwache und nicht denke: ‚Ich will etwas gewinnen‘“, meinte er einst. Anfang Februar, als sich die titellose Saison der Bayern anbahnte, erklärte Kane: „Ich habe schon öfter klargestellt, dass ich in meiner Karriere Trophäen gewinnen möchte und dies eine der Sachen ist, die meiner Karriere bislang fehlen. Aber wie immer werde ich nicht in Panik verfallen.“

2021 ging für Harry Kane das EM-Finale gegen Italien veroren
2021 ging für Harry Kane das EM-Finale gegen Italien veroren © GEPA

Ob das Drehbuch seiner Laufbahn die persönliche Erlösung für diesen Sonntag, wenn Kane mit England im EM-Finale Spanien fordert, vorgesehen hat? Passender als zeitgleich mit der nationalen Erlösung nach 58 titellosen Jahren der „Three Lions“ ginge es kaum.

Wie für seine im Turnier lange enttäuschende Nationalmannschaft musste sich auch Kane in den vergangenen Wochen Kritik gefallen lassen. Der Striker wirkte bestimmt schon mal spritziger, durfte jedoch auch ein gutes Stück entfernt von seiner Topform bereits drei Treffer bei dieser EM bejubeln. Dennoch fiel es natürlich auf, dass gegen die Niederlande der Finaleinzug gelang, nachdem Kane ausgewechselt wurde. Ollie Watkins ersetzte den Kapitän und ließ das Mutterland des Fußballs in der Nachspielzeit jubeln.

Besser ohne Kane?

Dass Teamchef Gareth Southgate Kane im Finale auf der Bank lassen könnte, schließt mit Ex-Nationalspieler Gary Neville einer der bekanntesten englischen TV-Experten jedoch aus: „Harry Kane ist jemand, den Gareth Southgate gerade in diesem wichtigen Moment nicht fallen lassen wird. Ich weiß, dass einige Leute meinen, dass wir ohne ihn besser dran wären, aber es würde keine gute Botschaft an die Mannschaft senden. Er ist ganz klar ihr Anführer und Southgate hat totales Vertrauen in ihn.“

Auch Southgate kann man kein Naheverhältnis mit Glückgöttin Fortuna nachsagen. Aber immerhin reichte es bei ihm in der Spielerkarriere zu zwei FA-Cup-Siegen. Gemeinsam mussten der Teamchef und sein Starstürmer das verlorene EM-Finale 2021 verkraften. Dieses Negativerlebnis motiviert Kane vielleicht noch mehr als andere, das Schicksal diesmal zu erzwingen: „Es hat uns und der Nation lange weh getan, dass wir damals nicht den letzten Schritt gegangen sind. Wir haben extrem hart dafür gearbeitet, um wieder diese Möglichkeit zu haben. Wir werden alles daransetzen, um diese Trophäe zu gewinnen.“ Eine schönere Heilung seiner Titelallergie wäre kaum vorstellbar.