Am Ende jubelten sie ihm doch zu. „One more“, rief England-Trainer Gareth Southgate den Fans der „Three Lions“ zu und die Menge bebte im Stadion in Dortmund. „Einmal noch.“ Ein Sieg fehlt den Engländern für den Europameistertitel, der erste Titel seit dem Jahr 1966. Am Sonntag geht es im Finale gegen Spanien. Erst im Halbfinale wagte sich Southgate in unmittelbare Nähe der England-Fans, davor hielt er bei seinen Applaus-Streifzügen mehr als nur einige Meter Abstand. „Das geschafft zu haben, macht mich wahnsinnig stolz“, sagt der 53-Jährige. Seit 2016 ist er Teamchef Englands. Bei vier Turnieren führte er seine Mannschaft drei Mal ins Halbfinale, 2021 scheiterten die Engländer im Finale erst im Elfmeterschießen an Italien.
Und obwohl zwischen dem Weltmeistertitel 1966 und Gareth Southgate nur zwei EM-Halbfinal-Teilnahmen (1968, 1996) und eine WM-Halbfinalteilnahme (1990) gelangen, steht Southgate in seinem Heimatland permanent in der Kritik. Die Vorwürfe in diesem Jahr? Jack Grealish nicht nominiert zu haben, Rechtsverteidiger Trent Alexander-Arnold im defensiven Mittelfeld aufgeboten zu haben, Phil Foden nicht – wie bei Manchester City – vor Kyle Walker zu positionieren, Rechtsverteidiger Kieran Trippier links spielen zu lassen. An Southgate prallte die Kritik ab. Er korrigierte, blieb aber bei seiner Idee. Es braucht nicht unbedingt ein Feuerwerk, um ins Finale einzuziehen. Die Fans würden sich aber genau das erwarten.
Vor zehn Tagen flogen noch Bierbecher
Darum sind am Ende der Vorrunde noch Bierbecher aus dem Sektor der England-Fans Richtung Southgate geflogen. Zu vorsichtig, zu zurückhaltend, zu unspektakulär waren die Auftritte der Engländer. Bis zum Halbfinale gegen die Holländer. Da präsentierten sich die „Three Lions“ leidenschaftlicher und auch fußballerisch besser. Das gefällt den Engländern, die sich gerne als beste Fußball-Nation sehen, aber so erfolgsverwöhnt gar nicht sind. Plötzlich ist vergessen, dass die Engländer im Achtel- und Viertelfinale beinahe ausgeschieden wären. Gegen die Slowakei brauchte es einen Geniestreich von Superstar Jude Bellingham, um überhaupt in die Verlängerung zu kommen. Gegen die Schweiz brauchten die Engländer ein Elfmeterschießen, um weiterzukommen.
Der „Charakter“ der Mannschaft machte für den Trainer den entscheidenden Unterschied im Halbfinale aus. Dass er selbst mit seinen Umstellungen vor dem Spiel und den Einwechslungen von Torschützen Ollie Watkins und Assistgeber Cole Palmer für Phil Foden und Harry Kane – die beide eine ordentliche Leistung zeigten – erwähnt der 53-Jährige nicht. Zu bescheiden ist er, auch im Moment von großen Erfolgen. „Wir haben unseren Fans eine der besten Nächte in 50 Jahren beschert. Darauf bin ich sehr stolz. Aber wir sind bislang nicht fertig, die größte Herausforderung wartet noch. Wir sind hierhin gekommen, um das Turnier zu gewinnen“, stellt er die Leistung der Mannschaft in den Mittelpunkt. Und er hat Verständnis für die Fans: „Wenn ich nicht unten auf dem Platz wäre, wäre ich bei ihnen auf der Tribüne. Doch ich stehe nun einmal unten und muss Entscheidungen treffen.“
Keine Party
Eine „wilde Party in der Kabine“ konnte Southgate nach dem Finaleinzug ausschließen, die Fans hätten sich aber das eine oder andere Bier mehr verdient. Gerade noch der Buhmann, sorgte Southgate plötzlich für Euphorie: „Dafür habe ich diesen Job übernommen: um England als Nation hinter dieser Mannschaft zusammenzuführen.“ Und zum ersten Mal in der Geschichte des Fußball-Mutterlandes spielen die „Three Lions“ außerhalb Englands um einen Titel. 1966 war England WM-Veranstalter, 2021 fand das Finale der Europameisterschaft im Wembley Stadium statt. Dass es für den ersten Europameistertitel reicht, braucht es von England gegen Spanien aber eine herausragende Leistung. „Wir werden mit und gegen den Ball außergewöhnlich gut sein müssen.“ Der Nachsatz, der zeigt, dass ihn die Kritik der Massen dann doch nicht ganz kalt gelassen hat: „Wir neigen ja dazu, zu glauben, nur wir hätten gute Spieler. Das stimmt aber nicht.“