Die Leidtragende des Jubels beim zweiten Treffer war Ralf Rangnicks Brille. „Das lag aber nicht nur an Christoph Baumgartner, da kamen noch ein paar andere Spieler dazu. Ich denke, die Brille ist noch okay. Wenn nicht, habe ich zwei Ersatzbrillen dabei“, lachte der ÖFB-Teamchef über die Emotionen nach dem Treffer zur 2:1-Führung. So erfreulich beim 3:1-Sieg gegen Polen zu beobachten war, wie sich das Nationalteam wieder einmal aus einer kritischen Phase befreite, brauchte man auch keine Augengläser, um Defizite zu erkennen.

Zwischen starken ersten 20 Minuten und überzeugendem Finish ab der spätestens 60. Minute lud das ÖFB-Team den Kontrahenten zu vielleicht noch mehr Treffern ein (Rangnick: „Um das Gegentor haben wir gebettelt“), die Polen nahmen die Einladung dankenswerterweise nicht an. Die Erkenntnis, dass Österreich ein EM-Spiel gewinnen kann, ohne am Limit zu sein, ist eine erfreuliche. Dies soll und muss ein zusätzlicher Turbo für Euphorie und Begeisterung im Land sein. Einer der größten Fortschritte der vergangenen Jahre ist, dass nach solch einem fußballhistorisch eher seltenen Ereignis (dritter ÖFB-Sieg bei einer Euro überhaupt) offen darüber gesprochen wird, dass es Mängel gab, anstatt ergebnisabhängig pauschal alles super zu finden.

Rangnicks Analysen fallen ergebnisunabhängig in beide Richtungen stets unbestechlich und mitunter unbequem ehrlich aus. Doch auch aus Spieler-Mündern war bei aller Erleichterung und Euphorie zu vernehmen, dass der Sprung aufs nächste Leistungs-Level noch gelingen muss. Man habe in einigen Phasen gesehen, wie gut das Team sein kann, wenn es sein Spiel auf den Platz bringt, fand Stefan Posch: „Aber um gegen Topgegner zu gewinnen, müssen wir das über längere Phasen zeigen.“ Marcel Sabitzer monierte: „Wir waren sehr dominant, sind dann aber zu passiv geworden. Das hat Polen in die Karten gespielt.“ Vor allem dieser Einbruch vor der Pause war kaum erklärlich. Rangnick vermutete eine „Kopfsache“. Eine Mischung aus dem Glauben an einen Selbstläufer nach überlegenem Beginn sowie das Spüren der riesigen Erwartungshaltung.

Verleugnen ließ sich die Drucksituation bestimmt nicht. Ein Blick in die erleichterten Spielergesichter reichte, um zu wissen, was für ein Drucklöser dieses Resultat war. „Im Sport geht es immer wieder um abliefern, abliefern und abliefern“, wusste Posch, „aber liefern ist immer so leicht gesagt. Uns allen ist ein Riesen-Stein vom Herzen gefallen. Die drei Punkte waren überlebenswichtig. Sonst hätten wir unsere Sachen packen können. Nun sind wir im Turnier angekommen. Jetzt geht es richtig los!“

Vor dem Duell mit den Niederlanden am Dienstag ist es gut zu wissen, dass Österreich nicht nur Schwächephasen übertauchen, sondern auch Hilfe von außen annehmen kann. Rangnick korrigierte Startelf-Entscheidungen, die sich im Nachhinein als unglücklich erwiesen haben. Florian Grillitsch erwischte nicht seinen besten Tag und wurde von Patrick Wimmer ersetzt. Auch die Maßnahme, Baumgartner nach einem Einzelgespräch neu zu positionieren, brachte eine deutliche Leistungssteigerung mit sich. „Die Umstellung von rechts ins Zentrum, wo er auf der Neuneinhalb sicherlich am besten aufgehoben ist, hat ihm gutgetan“, analysierte Rangnick.

Laut Assistent Lars Kornetka stünden die konkreten Maßnahmen bereits mit dem Pausenpfiff fest. Im konkreten Fall sei es darum gegangen, der Mannschaft zu verdeutlichen, dass der Matchplan im Grunde stimmt. Aufgrund individueller Fehler habe man zu viele Bälle hergeschenkt. „Die Art und Weise des Spiels haben wir eigentlich nicht verändert“, so Kornetka. Spielerseitig heißt man dieses In-Game-Coaching willkommen. „Es ist wichtig und eine große Hilfe, wenn ein Trainerteam sieht, was falsch läuft und korrigierend eingreifen kann“, lobte Gernot Trauner.

Arbeit an bislang ineffizienten Standards

Ein Aspekt, bei dem ebenfalls Luft nach oben bleibt, sind offensive Standards, bei denen bislang nichts herausgeschaut hat. „Das wissen wir und daran arbeiten wir“, versprach Kornatka, „die Ideen sind sehr gut, aber noch haben wir sie nicht auf den Platz gebracht.“ Es soll in der rot-weiß-roten Fußball-Geschichte schon schwierigere Momente gegeben haben, als vor einer realistischen Achtelfinal-Qualifikation genügend Raum für mögliche Verbesserungen festzustellen. Das ÖFB-Team hat den Sprung in die K.o.-Runde in der eigenen Hand. Bei einem Sieg gegen die Niederlande wäre man fix weiter, bei einem Remis höchstwahrscheinlich. Selbst bei einer Niederlage besteht die Chance, als einer der vier besten Gruppendritten aufzusteigen.

Erfreulich ist, dass sich einige Akteure definitiv in EM-Form befinden. Ein Beispiel ist Nicolas Seiwald, dem Rangnick „sein bestes Länderspiel seit ich Teamchef bin“ attestierte. In der Innenverteidigung hätte neben Trauner auch Philipp Lienhart geglänzt: „Ein grandioser Auftritt, wenn man bedenkt, dass er erstmals seit Dezember 90 Minuten gespielt hat.“ Oder Joker Alexander Prass, der das 2:1 mustergültig vorbereitet hat. „‘Prassi‘ fand ich richtig gut“, lobte der Chefcoach den Sturm-Kicker. Dass laut Teamchef vor der Pause vier oder fünf Spieler unter ihrer Normalform geblieben sind, gehört aber ebenso zur Wahrheit dieses Spiels. Während die Öffentlichkeit verständlicherweise immer mehr Jubel, Trubel, Heiterkeit verspürt, arbeitet man intern akribisch und selbstkritisch an notwendigen Nachschärfungen. Damit es hoffentlich wirklich erst so richtig losgeht.