Eigentlich ist ja Graz derzeit Österreichs Fußball-Hauptstadt, dem Double des SK Sturm und dem Aufstieg des GAK sei Dank. In den kommenden Tagen wird jedoch Berlin zum rot-weiß-roten Hotspot in Sachen rundes Leder werden. Die beiden entscheidenden EM-Gruppenspiele gegen Polen (21. Juni) und die Niederlande (25. Juni) gehen im Olympiastadion über die Bühne. Auf das Nationalteam warten also quasi zwei verkappte „Heimspiele“. Die Wege sind dank des Basecamps vor der Haustür definitiv kurze.
Tatsächliche Heimspiel-Atmosphäre wird die Aufgabe der ÖFB-Fans sein. Nimmt man die Stimmung beim 0:1 gegen Frankreich in Düsseldorf als Maßstab, ist auch in der deutschen Metropole mit gewaltigem Zuschauerzuspruch zu rechnen. Wer einen Aufenthalt für beide ÖFB-Spiele gebucht hat und generell an Fußball interessiert ist, möchte möglicherweise auch die übrigen EM-Spiele in Gesellschaft schauen. An Gelegenheiten mangelt es nicht (Überblick). Public Viewings gibt es etwa am Flughafen Tempelhof, im Prater Biergarten, im Pride House Berlin oder veranstaltet vom Fußballmagazin 11 Freunde – für jeden Geschmack ist etwas im Angebot.
Der größte Andrang ist in den beiden offiziellen Fanzonen zu erwarten. Beide befinden sich in unmittelbarer Nachbarschaft und touristisch überlegt platziert. Eine am Brandenburger Tor, die andere am Reichstag. Die Konzepte sind denkbar unterschiedlich.
Man kennt die Bilder vom Brandenburger Tor, wo sich Fan an Fan drängt und die Mehrheit am Ende ganz „schwarz-rot-geil“ für Deutschland jubelt. So scheint es vereinfacht ausgedrückt auch diesmal gedacht. Übertragen werden vor dem Viertelfinale nämlich nur die Partien des DFB-Teams und jene, die in Berlin stattfinden. Für alle Österreicher ohne Stadion-Ticket ist es also definitiv eine Option. Man könnte zumindest behaupten, ins „größte Fußball-Tor der Welt“ geguckt zu haben. Selbiges wurde nämlich vor der beliebten Sehenswürdigkeit aufgebaut. Programm gibt es auch an übertragungsfreien Tagen. Am vergangenen Sonntag konnte man sich abends den Spielfilm „Das Wunder von Bern“ zu Gemüte führen, wenn man einen garantierten deutschen Sieg einem englischen Zitterspiel dem Vorzug geben wollte.
Die Sicherheitsvorkehrungen sind streng. Rucksäcke sind maximal in A4-Größe erlaubt, und auch sonst wird genau überprüft, was man etwa in den Hosentaschen mit sich führt. Dies gilt auch nebenan auf der Wiese vor dem Reichstag. Dort sind alle bestens aufgehoben, die lieber in chilligerem Ambiente Fußball schauen und nicht dicht an dicht gedrängt. Alle, die gerne hören, was der Kommentator sagt. Und alle, die die notwendige Toleranz für allzu kapitalistisch gedachte Produktempfehlungen mitbringen.
Wobei: Es sind auch die Touchpoints der UEFA-Sponsoren, die dem 6.200 Quadratmeter großen Gelände des EM-Festivals eher Messecharakter verleihen und die Veranstaltung auflockern. Kindern wird jede Menge Ablenkung geboten. Wer bevorzugt in Kleinstgruppen schaut, kann dies beispielsweise auf den Liegestühlen im Bereich von Supermarktkette XY. Sportartikelhersteller AB indes hat ein Mini-Stadion errichtet, in dem bis zu 3.000 Sitzplätze verfügbar sind.
Sitzen ist ganz allgemein ein priorisiertes Anliegen dieser Fanzone. Auch vor den größten Screens sind viele Liegestühle platziert. Wer keinen ergattert, kann sich bedenkenlos am Holzboden niederlassen. Übertragen werden ausnahmslos alle EM-Spiele. Allzu großes Gedränge wird durch die Höchstkapazität von 10.000 Menschen verhindert. Ist diese erreicht, wird nach dem „One in, one out“-Prinzip agiert.
Der Eintritt in beide Fanzonen ist kostenlos. Die Wahrscheinlichkeit, dass man um einige Euros erleichtert den Heimweg antritt, ist dennoch groß. An Versorgungsmöglichkeiten im Falle akuten Hungers oder dringender Durstgefühle mangelt es nicht. Darüber, ob sechs Euro für ein Bier und fünf Euro für 0,5 Liter Wasser oder Soft Drinks (plus drei Euro Pfand) gerechtfertigt sind, lässt sich aber debattieren. Nicht diskutieren muss man über die Hoffnung, dass Österreichs temporäre Fußball-Hauptstadt in den kommenden Tagen fest in rot-weiß-roter Hand ist.