Liebe ist ein Wort, mit dem man nicht leichtfertig umgeht. Ralf Rangnick verwendet diesen Begriff in Zusammenhang mit seiner Mannschaft immer wieder, so auch aktuell in Berlin: „Auch deswegen liebe ich sie so sehr, weil sie selbst mich als Teamchef hin und wieder mit solchen Aktionen überraschen.“ Gemeint ist im konkreten Fall Christoph Baumgartners Weltrekordtor beim Test in der Slowakei. „Ich habe rübergeschaut zu meinen Co-Trainern und sie gefragt: ‚Haben wir das jetzt wirklich live erlebt?‘ Das sind wunderbare Momente“, schwärmt Rangnick.
Falls es einen Beweis gebraucht hätte, wie sehr ihm dieses Team ans Herz gewachsen ist, hat er ihn mit seiner Absage an den FC Bayern gebracht. Dass dieses Thema vor allem für die deutschen Journalisten im ÖFB-Camp hohe Relevanz hat, versteht sich von selbst. Also erzählte Rangnick ihnen, dass es „beruflich wahrscheinlich meine schwierigste Entscheidung“ gewesen sei, die sich allerdings unverändert richtig anfühle. Sein voller Fokus gelte nur einer Sache. Auch mit bald 66 darf man nicht aufhören zu lernen. Also streckt Rangnick beide Arme aus, die Hände erst weit auseinander, dann eng beieinander und sagt: „Fokus, Fokus, Fokus – und zwar so.“ Besagter enger Fokus sei die wichtigste Message gewesen, die Ralph Krueger bei seinem Workshop tags zuvor mitgegeben hat. Rangnick, selbst ohne Turniererfahrung, hatte den früheren Eishockey-Coach mit reichlich WM- und Olympia-Praxis kontaktiert, um zu erfahren, worauf er achten müsse: „Man darf sich nicht ablenken lassen und keine Energie verschwenden.“ Der Deutsche gesteht, dass dies für ihn als Perfektionisten nicht immer die leichteste Übung ist.
Man spürt, dass Rangnick bei diesem Start in die zweite Phase seiner Teamchef-Ära nichts dem Zufall überlassen möchte. „Wir sind um einiges weiter als vor zwei Jahren“, blickt der Chefcoach auf seine Anfänge als Nationaltrainer zurück und ortet taktische und spielerische Weiterentwicklung. Dies sei für jedermann erkennbar. „Ich bin bis jetzt sehr zufrieden, aber mir ist auch klar, dass wir diese Leistungen erst bei einem Turnier abrufen müssen“, sagt Rangnick und stellt klar: „Am Montag geht es von Neuem los!“ Die EM-Vorrunde sei „wieder ein kleines Turnier“. Dieses Turnier im Turnier wird angesichts der Gruppengegner Frankreich, Polen und Niederlande bekanntlich herausfordernd.
In Rangnicks Welt sind Herausforderungen da, um bewältigt zu werden. Es ist ein reizvoller Spagat zwischen der Rolle als Geheimfavorit, als den manche Experten Österreich einordnen, und Außenseiter, der Rot-Weiß-Rot in dieser Gruppe nun mal ist. „Es spielt überhaupt keine Rolle, als was wir gesehen werden. Das hilft uns nicht, Spiele zu gewinnen“, stellt Rangnick klar. Österreich sei kein Favorit („Fragen Sie im Wettbüro nach den Quoten. Ich glaube nicht, dass wir in den Top zwei unserer Gruppe sind“), dennoch vergisst Rangnick niemals den Nebensatz, dass man trotzdem eine Chance habe und Spiele gewinnen könne.
„Frankreich zockt gerne“
In der Qualifikation sei Österreich das Team mit den meisten Balleroberungen in der gegnerischen Hälfte gewesen. „Frankreich hat eine Mannschaft, die gerne zockt und hinten raus kombiniert. Das muss kein Nachteil sein, auch wenn sie das natürlich auf hohem Niveau machen“, denkt der 65-Jährige vor dem Kräftemessen mit dem Favoriten laut nach. Wohlwissend, dass die Grande Nation „von der Einzelspielerqualität her in der Spitze und der Breite wahrscheinlich den besten Kader aller Teilnehmer“ habe.
Das Gegenmittel: Österreich müsse als Mannschaft besser zusammenarbeiten, besser umschalten, im entscheidenden Moment auch in der Lage sein, ein Tor zu machen, und gleichzeitig zu viele Torchancen der Franzosen vermeiden. Dafür heißt es wiederum, Kylian Mbappé bestmöglich aus dem Spiel zu nehmen. „Gemeinsam mit Erling Haaland ist er derzeit im Angriff der Beste auf der Welt“, weiß Rangnick, „wir müssen ihn so gut verteidigen, dass es gar nicht so viele Bälle für ihn gibt. Auch er braucht Bälle, um seine Stärken auszuspielen.“ Die Idee, wie und auch mit wem Österreich das Spiel angehen wird, sei inzwischen gereift. Die große Frage bleibt, wer Xaver Schlager ersetzen wird. Florian Grillitsch als direkter Erbe oder Konrad Laimer, der ins Zentrum rücken würde, gelten als die Favoriten. Nicolas Seiwald ist gesetzt. Rangnick: „Für uns geht es darum, mit wem an seiner Seite wir am Montag am besten aufgestellt ins Spiel gehen.“
Für Entscheidungen wie diese werden Teamchefs gut bezahlt. Bei dieser EM werden einige hochkarätige Trainer an der Seitenlinie stehen. Rangnick erkennt einen Trend darin, dass „viele Vereinstrainer“ wie etwa Julian Nagelsmann am Start sind. Sein Rückschluss: „Vieles spricht dafür, dass das taktische Niveau höher und anspruchsvoller sein wird, als man es sonst von Nationalteams oder Europa- und Weltmeisterschaften kennt.“ Entsprechend werde man als Trainer gefordert sein, von außen zu helfen, Spiele zu gewinnen: „Ich bin ja jetzt auch ein Neuling, ich nehme ebenfalls erstmals als Nationaltrainer an einem Turnier teil.“
Am Montag startet sie, die zweite Phase der Rangnick-Ära. Möge seine Liebe zum Team noch größer werden.