Stimmungstechnisch erinnerte Englands Fußball vor dem Start der Europameisterschaft in Deutschland an einen regnerischen Tag in London – und das hat viel mit dem letzten Test der „Three Lions“ vor dem Turnier zu tun. Das Star-Ensemble rund um Harry Kane, Declan Rice und Co. blamierte sich gegen Island mit 0:1 und die englische Presse schrieb das Team daraufhin kurzerhand völlig ab. Alle Hoffnungen auf einen Titelgewinn seien „ins Lächerliche“ gezogen worden, schrieb etwa die „Sun“ und legte nach. „Return of the Ice Age“ (“Rückkehr der Eiszeit“) titelte das Boulevardblatt und bezog sich damit auf das peinliche Achtelfinal-Aus gegen Island bei der Euro 2016.
Die „Times“ schrieb von der „Wembley-Horror-Show“, für die „Daily Mail“ sei das Team „machtlos und anfällig“ und somit „nicht bereit für die EM“. Von Euphorie ist im Mutterland des Fußballs also keine Spur, nur die wenigsten Fans trauen dem Team tatsächlich den Titel zu. Das liegt aber nicht nur an der jüngsten Niederlage im freundschaftlichen Test gegen die isländischen Wikinger, sondern auch an der Entwicklung der Mannschaft. Trotz einer EM-Quali ohne Niederlage liest sich die Statistik im Jahr 2024 für eine englische Nationalmannschaft alles andere als ansprechend. Ein Sieg aus vier Spielen in diesem Kalenderjahr ist zu wenig, vor allem da die Engländer spielerisch oftmals enttäuschten. Die Pfiffe der Fans beim letzten Test gegen Island sind also berechtigt, meint auch Teamchef Gareth Southgate selbst. „Das ist völlig verständlich. Wir haben nicht gut genug gespielt, um sie während des Spiels zu begeistern.“
Favorit wider Willen
Setzt man die englische Brille ab und verzichtet somit auch auf jede Form von Pessimismus, ist der englische Kader mehr als reif für den Titel. Kaum eine andere Nation hat einen höheren Marktwert bei dieser Endrunde, kaum eine andere Mannschaft könnte es sich erlauben, Stars wie Harry Maguire (Manchester United) oder Jack Grealish (Manchester City) nicht in den 26 Mann starken Kader aufzunehmen. Dennoch hat Southgate einmal mehr die Qual der Wahl in Sachen Startformation. In der Defensive sind Star-Spieler wie Josh Stones, Joe Gomes oder Kyle Walker gesetzt. Generell ließ die englische Defensivabteilung in der Qualifikation für die Europameisterschaft in einer Gruppe mit Italien und der Ukraine nur vier Gegentreffer zu.
Das Prunkstück der „Three Lions“ ist aber mit Sicherheit die Offensive. Champions-League-Sieger Jude Bellingham geigt im Mittelfeld mit Cole Palmer auf, dahinter regelt Arsenal-Star Declan Rice den Verkehr. Gegnerische Defensivabteilungen, in Gruppe C jene von Slowenien, Dänemark und Serbien, bekommen es außerdem mit Phil Foden, Bukayo Sako oder Harry Kane zu tun. Geballte Offensivpower, die wohl kaum zu verteidigen ist. Gelingt es Southgate tatsächlich, das Star-Ensemble während des Turniers zu einer wahren Einheit zu formen, könnten sich die Berechnungen des Supercomputers OCB Scores tatsächlich als wahr herausstellen. Demnach ist England mit einer Titelchance von 34,4 Prozent der große Favorit – trotz der jüngsten „Horror Show“.