Früher, als noch kein Ärztemangel herrschte, war es in Österreich üblich, an Krankenhaustoten eine Sektion vorzunehmen. Dabei wurde auch das Gehirn untersucht und nach Beendigung der Leichenschau im Bauchraum verstaut. Damit die Augen nicht in den hohlen Schädel sanken, wurde dieser mit Zeitungspapier ausgestopft, weshalb sehr viele heimischen Leichen statt einem Hirn die Kleine oder eine andere Postille im Kopf haben. Kronenzeitung als Gehirnersatz, war ein gängiger Chirurgenspruch.
Auch Dominic Thiem wurde bereits für tot erklärt. Doch in seinem Kopf spielten sich andere Dinge ab. Eine Reihe von Erstrundenniederlagen gegen Spieler wie Dellien, Cecchinato, Fognini, Bonzi, die sein Selbstvertrauen auf den derzeitigen Wasserstand des Neusiedler Sees sinken ließen. Plötzlich waren selbst Spieler außerhalb der Top 300 schier unüberwindliche Hürden. Dabei hat Dominic nicht schlecht gespielt, aber beim Tennis reichen ein paar blöde Fehler, einige falsche Entscheidungen, und der Faden ist gerissen. Der Gegner wird stärker, man hat kein Glück und dann kommt auch noch Pech dazu. Die Leistungsdichte ist enorm und nirgendwo wird die Fragilität der Psyche so offensichtlich wie beim Tennis. Als die Fans schon verzweifelten und dem von Niederlage zu Niederlage grundelnden Thiem empfahlen, seine Karriere in den Sumpf zu werfen, spielte er gegen einen 23-jährigen Finnen namens Emil Ruusuvuori. Ein Unbekannter? Immerhin die aktuelle Nummer 43 der Weltrangliste. Alles sah nach einem typischen Thiem-Spiel aus. Erster Satz verloren, zweiter gewonnen, Tiebreak im dritten. Dominic verspielt eine 5:2-Führung und man denkt, es ist vorbei, er kann nicht mehr gewinnen. Da macht der Finne einen Doppelfehler und schenkt dem bis in die Fingerspitzen verunsicherten Österreicher das Spiel. Es folgten zwei weitere Siege. Thiem hat wieder Vertrauen in seine Schläge und man meint, bald ist er wieder ganz der Alte.
Während Radprofis Herzwände haben, die so dick sind wie bei Rennpferden, brauchen Tennisspieler eine robuste Psyche. Alles eine Frage des Glaubens und des Willens, aber je mehr einer zu denken anfängt, desto komplizierter wird es. Auch Dennis Novak ist talentiert, aber während andere bei wichtigen Punkten ihre besten Schläge auspacken, kann man bei ihm das Nervenflattern förmlich spüren. Er beginnt zu grübeln und hat plötzlich Angst vor dem Gewinnen. Manchmal wäre es besser, statt der Hormone ausschüttenden grauen Zellen gleich eine Zeitung im Kopf zu haben. Aber bei Thiem geht es bergauf. Dank eines Finnen mit vier Us, einem Doppelfehler und ein wenig Glück. Jetzt darf er wieder Zeitungen füllen und nicht umgekehrt, weil Totgesagte leben länger.
Franzobel, 1967 in Vöcklabruck geboren, ist Schriftsteller und Sportfan.