Gianluigi Donnarumma hatte einen Gesichtsausdruck, als könnte er es selbst noch gar nicht glauben. Es war fünf Minuten vor Mitternacht am Sonntag, als der italienische Torwart den entscheidenden Elfmeter parierte. Italiens Torwart ist erst 22 Jahre alt und wirkt schon wie ein Routinier. Englands Bukayo Saka ist auch erst 19 Jahre alt, ihm versagten beim Schuss die Nerven. Zwei Jünglinge entschieden diesen Moment, einerseits über den Ausgang der Europameisterschaft und ganz nebenbei auch noch über die Gefühle ihrer Nationen. Ein bisschen zu viel des Guten vielleicht. Glück oder Unglück, Euphorie oder Depression. Alles kam in diesem Schuss zusammen. Donnarumma parierte. Italien taumelte ins Glück, das war die Geschichte dieses Abends. Und es war nicht nur Fußball-Glück.

Der Torwart stand auf und blickte in das entgeisterte Wembley-Stadion von London. 65 000 vor allem englische Fans hatten dem EM-Finale beigewohnt, jetzt war die Entscheidung gefallen. Donnarumma stand einfach da und schaute, als hätte er verloren. Vielleicht war es einfach die Ungläubigkeit eines Matchwinners, die die Ungläubigkeit einer ganzen Nation verkörperte. „Donnarumissima“, schrieb die Tageszeitung La Repubblica. Sie hätte auch „Italissima“ schreiben können. Denn Italien blüht seit Sonntag auf im Jubel nach einer finsteren Zeit. Sie begann im Februar 2020 im Städtchen Codogno in der Lombardei. Hier nahm die Pandemie in Europa ihren Anfang, hier versank Italien in eine tiefe Depression.


Und dann dieser befreiende Fußball-Moment vom Sonntagabend. In Rom waren die ganze Nacht über Böller zu hören, die Tifosi ergossen sich auf die Straßen. Viele fuhren mit dem Roller und einer Italien-Fahne ausgerüstet durch die Nacht. Jubelchöre zum Song „Seven Nation Army“ der White Stripes, landesweit seit dem WM-Sieg 2006 unter der Chiffre Pooo-Po-Po-Po-Po-Pooo-Pooo bekannt, ertönten überall. In Mailand erklommen Fußballverrückte zwei Trambahnen. Auf der Piazza Duomo wurde so heftig gefeiert und geböllert, dass sogar 15 Verletzte und drei Schwerverletzte zu beklagen waren. Brunnen wurden in Schwimmbecken umfunktioniert. Nationale Ekstase von Pordenone bis Palermo. Corona-Abstände, Gesichtsmasken zum Schutz vor dem Virus? Wie vergessen.

Unerwartete Auferstehung

Vor dem Turnierbeginn konnte niemand damit rechnen, dass Italien Europameister werden würde. Auch der italienische Fußball kam gerade aus einer großen Krise, nachdem die Qualifikation für die WM 2018 verpasst worden war. Ein Tiefpunkt jagte den anderen. Sportlich, politisch, sozial. Das Land selbst schien im letzten Jahr vor allem mit sich selbst beschäftigt. Die Corona-Pandemie hatte Italien seit Februar 2020 besonders zugesetzt, mit 127 000 Todesopfern, so viele wie in keinem anderen Land. Die Verletzlichkeit Italiens, sie war deutlich sichtbar geworden. Und der EM-Titel wirkte wie der Moment, in dem die jüngere italienische Geschichte kollektiv in Vergessenheit geraten durfte. Am Montagnachmittag empfing Staatspräsident Sergio Mattarella die Mannschaft, später stattete Roberto Mancinis Team auch Premierminister Mario Draghi einen Besuch in dessen Amtssitz ab.

Corona war nicht die einzige italienische Tragödie der vergangenen Jahre. 2018 war die Morandi-Brücke in Genua eingestürzt, für viele war der Zusammenbruch des Viadukts wie eine Quintessenz für Leichtfertigkeit mit verheerenden Folgen. Man liebt ja die italienische Leichtigkeit und bewundert sie auch ein bisschen. Aber war sie zuletzt nicht auffällig häufig außer Kontrolle geraten, diese Eigenschaft, dieses Gefühl, das viele Urlauber im Land suchen? Auch 2012 gab es diese Tragödie, weil ein von sich selbst eingenommener Kapitän die Regeln nicht befolgte. Im Januar jenes Jahres ließ Kapitän Francesco Schettino das Kreuzfahrtschiff Costa Concordia vor der Insel Giglio aus Unachtsamkeit auf Grund laufen, es gab Tote.

Noch so ein Drama, das in den Stereotyp von der italienischen Leichtfertigkeit passte. Zuvor hatte 2008 die Finanz- und Schuldenkrise den Mittelmeerstaat an den Rand einer Staatspleite gebracht. Silvio Berlusconi, Beppe Grillo, solche Figuren bestimmten die italienische Politik. Wohin war Italien im Begriff zu driften? Die Hiobsbotschaften häuften sich, das Land schien in einer Abwärtsspirale gefangen. Und jetzt der Gewinn der Europameisterschaft. Unverhofft, ein bisschen aus dem Nichts. Und sehr wie Phönix aus der Asche.

Die Kraft der Verdrängung

Kann so ein Titelgewinn einen Ruck im Land erzeugen oder ist er längst Ausdruck von in Vergessenheit geratenen Tugenden? Der EM-Titel ist in jedem Fall so etwas wie ein kurzes Aufatmen nach dem Sturm. Der Fußball hat schließlich auch die große Kraft der Verdrängung. Wie die Italiener seit Sonntagnacht feiern, es wirkt wie eine kleine Wiedergeburt nach Jahren der Entbehrung. Der Corriere della Sera erkannte im Titelgewinn gar ein „Zeichen der Auferstehung nach der schlimmsten Zeit unseres Lebens“.

Aber vielleicht ist die Wende ja längst geglückt und der EM-Titel nur der Ausdruck einer bereits vollzogenen Kehrtwende. Das wäre die positive Geschichte. Italien hätte demnach die Pandemie im Griff und nicht andersherum. Der Ministerpräsident, ein anerkannter Fachmann, der das Land wieder auf Vordermann bringt. Die EU-Milliarden zum Wiederaufbau, die zu fließen beginnen. Und das alles würde sich in einer Mannschaft widerspiegeln, die keine Stars hat, aber viel Willen und vor allem Teamgeist. „Wir haben etwas Unglaubliches zustande gebracht“, sagte Trainer Roberto Mancini am Sonntagabend. Und er sagte auch: „Wir haben den Italienern einen Monat der Genugtuung und Freude bereitet.“ Vielleicht ging es einfach darum. Ein unwichtiger, wunderbarer Lichtblick in einem Land voller Probleme.