Noch vor zwanzig, dreißig Jahren wäre der Gedanke nicht bloß absurd, sondern nachgerade obszön gewesen, dass man sehr gut davon leben könnte, vor und nach und in der Pause vor Europacup-, Länder-, Weltmeisterschaftsspielen vor der Kamera mit dem Moderator über das Spiel zu plaudern. Heute indessen sind die Metastasen der Fachsimpelei auf allen Kanälen selbstverständlich. Entscheidend ist in unserem wissenschaftlichen Zeitalter bloß, die Plauderei „Analyse“ zu nennen.
Die Aufgabe des sogenannten „Chefanalytikers“ ist es im Wesentlichen, die (Nona-) Fragen des Moderators zu paraphrasieren: Tore, die man nicht schießt, erhält man eben. Italien ist Favorit, aber es sind auch schon so manche Favoriten gestorben. Mitentscheidend wird sein, wie wir die ersten 30 Minuten des Spiels überstehen. Aufpassen bei Standards! Sollte sich so ein Experte bei seinen ohnehin vagen Expertisen doch vertun, bleibt ihm bei der Analyse immer noch die geheimnisvolle Allheiloffenbarung: ‚Das ist Fußball’.“
Das habe ich vor zwanzig Jahren geschrieben, und der Chefanalytiker, den ich damals meinte, hieß - kaum zu glauben: Herbert Prohaska! Mittlerweile analysiert er Österreich (und den Rest der Fußball-Welt) schon bald ein Vierteljahrhundert durch alle Höhen und Tiefen (es waren mehr Tiefen als Höhen…): Prohaska war in seinem Leben viel, viel länger Chefanalytiker als Fußballspieler, und er hat beim ORF sicher viel, viel mehr verdient als bei Austria Wien, AS Roma und ÖFB zusammen.
Spieler müssen ihre Karriere infolge Alters, Verletzung oder Leistungsschwäche früher oder später beenden, Trainer wegen Erfolglosigkeit zurücktreten. Der Analytiker wird im Lauf der Jahre immer populärer: Debakel oder Niederlagenserien können ihm nichts anhaben, höchstens ein Hustenanfall und ein Frosch im Hals. Heute ist er vermutlich der Dienstälteste und wird hauptsächlich von Moderatorinnen befragt, die damals, als Prohaska kam, in den Kindergarten kamen. Aber das muss man erst einmal schaffen, dass die Fans 40 Jahre später in Bukarest die Kommentatorenkabine belagern und SEINEN Namen skandieren! So ist Fußball. Habemus papam calcio-em. Wer von uns könnte heute noch schlafen, wenn ER nicht mehr Gute Nacht! sagte?
Nicht immer sind seine Expertentipps aufgegangen: Bei Österreichspielen hat Herr Prohaska zum Beispiel als vorbildlicher Patriot seit 20 Jahren kein einziges Mal eine Niederlage getippt… Aber das macht nichts: Ein Prophet lebt ja gerade davon, dass seine Prophezeiungen nicht und nicht eintreffen wollen. Aber wenn sie es tun, bringen sie als Erstes den Propheten um. Allerdings, werte ORF-Redaktion: Der Analytiker beschäftigt sich mit dem, was gewesen ist, nicht mit dem, was vielleicht wird: Der Analytiker tippt nicht!
Übrigens: Noch vor zwanzig, dreißig Jahren wäre es absurd gewesen, dass die Werbung vor und nach und zwischen Fußballspielen hauptsächlich aus Werbung von Wettbüros besteht, eine aggressiver als die andere. Was ist mit der Suchtprävention? So gesehen könnte man gleich wieder Zigarettenwerbung machen, was sicher auch im Sinn Prohaskas wäre…
Egyd Gstättner