Die Spanier spielen eindeutig den kontrolliertesten Fußball bei dieser Endrunde – bestes Indiz: Mit einer durchschnittlichen Ballbesitzquote von 71,7 Prozent – gegen Schweden waren es gar über 80 Prozent. Aber, richtig: Ballbesitz allein gewinnt keine Spiele. Zusammen mit im Schnitt 19 Abschlüssen pro Spiel spricht es jedoch sehr wohl für die Spanier.
Ein Blick auf die Entstehungsgeschichte der fünf Gegentore – drei davon gegen Kroatien – erklärt, warum es bisher nicht reibungslos lief. Denn bei allen Toren waren Muster zu erkennen: Entweder man kassierte Treffer nach Flanken, bei denen im Zentrum Stürmer per Kopf zum Abschluss kamen, oder nach schweren individuellen Fehlern. Was das aber im Umkehrschluss heißt: Werden die Fehler abgestellt, ist Spanien definitiv ein Topteam dieser Euro, das auch verdient im Halbfinale steht. Und das trotz kompletten Verzichts auf Real-Madrid-Spieler, gleichzusetzen mit dem Bekenntnis von Trainer Luis Enrique zur Barcelona-Schule.
Grundordnung. Ein klassisches „Barça-4-3-3“. Im Zentrum steht ein spielstarker Sechser (Sergio Busquets), er hat zwei extrem ballstarke Achter (Koke und Pedri) zur Seite. Davor spielen mit Dani Olmo (statt des angeschlagenen Sarabia) und Ferran Torres zwei Außenstürmer, die im 1:1 enorm stark sind und hohe Geschwindigkeit haben. Und im Zentrum hat Mittelstürmer Álvaro Morata hohe Präsenz. Interessant: In der Innenverteidigung agieren mit Aymeric Laporte (ManCity) und Pau Torres (Villarreal) zwei Linksfüßer, das ist eher untypisch. Und vervollständigt wird das System von zwei laufstarken Außenverteidigern, in diesem Fall Jordi Alba und Cesar Azpilicueta. Auch der Schwenk von Enrique in der Tormann-Frage auf Unai Simon hat sich als richtig herausgestellt.
Spiel mit dem Ball. Wie erwähnt: ein Barcelona-Positionsspiel in Reinkultur. Und das wiederum heißt: Ein kontinuierlicher Spielaufbau mit flachen Bällen, ganz selten wird hoch gespielt. Die Spieler orientieren sich immer an den freien Räumen, versuchen, ständig anspielbar zu sein. All das passiert in hoher technischer Qualität, aber eines muss man klarstellen: Spanien spielt nicht das bekannte Tiki Taka.
Denn die Mannschaft ergötzt sich nicht am Ballbesitz, sondern spielt durchaus auf den Endzweck. Ziel ist es, den Ball immer wieder hinter die letzte Linie des Gegners zu spielen. Das unterstreicht auch der schon oft zitierte Wert der zu erwartenden Tore (xG-Faktor) von 3,06; nur hat man weit weniger oft getroffen. Am Spielaufbau sind die Innenverteidiger und der Spieler an der Sechserposition beteiligt, die beiden Achter bewegen sich zwischen der Mittelfeld- und Verteidigungslinie des Gegners. Kennzeichen dieser Spielart: Hohe Dominanz, verbunden damit, dass die letzte Linie weit aufrückt. Das öffnet aber Räume in Umschaltsituationen für den Gegner.
Spiel gegen den Ball. Nicht zuletzt, um die gerade angesprochenen Situationen zu unterbinden, geht man nach Ballverlusten extrem schnell ins Gegenpressing. Aber auch grundsätzlich presst Spanien mit drei Spielern hoch an, erzielt somit einen hohen „PPTA-Wert“. Dieser sagt, wie viele Pässe der Gegner macht, bevor der Ball wieder erobert wird. Spanien liegt hier im Schnitt bei 6,8; das heißt, dass man nur wenige Pässe des Gegners zulässt. Selbst spielt man dafür umso mehr. Gegen die Schweiz etwa hielt Spanien nach 120 Minuten bei 962 Pässen, die Eidgenossen schafften gerade einmal 359.
Wichtig ist bei dieser Spielweise die eigene Innenverteidigung, die oft Mann auf Mann verteidigen muss, damit ist Zweikampf- und Kopfballstärke ebenso gefragt wie Grundschnelligkeit.
Schlüsselspieler. Natürlich Sergio Busquets als Pass- und Taktgeber, als Ballverteiler. Dazu für mich Ferran Torres auf der Außenbahn, der viel Torgefahr ausstrahlt. Und: Pedri, den wenige am Radar haben. Aber für mich ist es unglaublich, über welch technische Fähigkeiten und Fertigkeiten er mit 18 Jahren verfügt. Dazu müsste ich auch Laporte erwähnen - eben weil die Innenverteidiger so enorm wichtig sind in der Spielart von Luis Enrique.
Philipp Semlic