Eine Sache muss man klarstellen: Die Ukraine hat sich unter Teamchef Andrej Schewtschenko stark weiterentwickelt. Sie haben ihre Qualifikationsgruppe souverän gewonnen – vor Europameister Portugal. Allein das ist Qualitätsmerkmal genug und sollte die Frage beantworten, ob unser dritter Euro-Gegner ein guter ist. Was die Ukraine ausmacht? Gegen viele Gegner, die von der Qualität her über sie zu stellen sind, spielen sie mit einem Mitteldrittel-Pressing und setzen auf Umschaltspiel. Sie haben aber auch – und das zeigte schon das Spiel gegen die Niederlande, sehr gute, kreative Lösungen im Positionsspiel. Kurz: Die Ukraine ist eine sehr spannende Mannschaft, die bei diesem Turnier für Überraschungen sorgen kann.
Grundordnung. 4-1-4-1. Im Mittelfeld agiert Schewtschenko mit drei zentralen Spielern, die enorm laufstark sind, aber auch über technische Fähigkeiten verfügen. Dahinter arbeitet eine stabile Viererkette, die sehr geradlinig spielt, ohne viele Schnörkel. Und vorne wartet noch Andrij Jarmolenko, der mit seinem linken Fuß nach wie vor viel Qualität auf den Platz bringt.
Spiel mit dem Ball. Die Ukrainer finden mit dem Ball oft gute Lösungen, versuchen Subkow bzw. Malinowski oder Jarmolenko am Flügel freizuspielen. Jarmolenko zieht dann so, wie es einst Arjen Robben bei den Bayern vorzeigte, nach innen und versucht, zum Torabschluss zu kommen. Gegen die Niederlande hat er das beim Anschlusstreffer zum 1:2 bereits gezeigt. Im zentralen Mittelfeld agieren mit Sintschenko, Schaparenko und Stepanenko drei Spieler, die sowohl am Ball gewisse Ruhe und Qualität ausstrahlen, aber auch gegen den Ball sehr laufstark und diszipliniert sind. Große Gefahr bringen Standards, weil die Ukraine über große Physis und damit über viel Wucht in der Mannschaft verfügt.
Spiel gegen den Ball. Gegen vermeintlich bessere Gegner wählt die Ukraine wie erwähnt oft das Mittelfeldpressing und versucht, nach Ballgewinnen schnell auf Jarmolenko oder Jaremtschuk umzuschalten. Im Spiel gegen den Ball bestechen die Ukrainer durch hohe Laufbereitschaft und Disziplin, dazu hat das Team ein sehr gutes Zweikampfverhalten. Gegen die Niederlande lag die Quote der gewonnen Zweikämpfe teilweise bei 60 Prozent – beeindruckend. Und auch der neuerliche Beweis für die physische Konstitution und Robustheit der Spieler.
Die Ukraine aber nur aufs Körperliche zu beschränken, wäre falsch.
Jarmolenko und Co. haben auch die Option, vorne anzupressen, in vielen Situationen schalten die Ukrainer vom Mitteldfeld-Pressing auf situatives Angriffspressing um. Wenn sie das machen, wechseln sie oft in ihr zweites Spielsystem, ein 3-5-2. Dann agiert eine zweite Spitze neben Jarmolenko und ein weiterer Spieler in der 10er-Position, um noch mehr Spieler in die vorderste Pressinglinie zu bringen. Das heißt: Diese Mannschaft hat auch einen Plan B und einen Plan C mit auf den Platz bekommen und ist im Detail bestens vorbereitet.
Wenn die Ukraine anfällig ist, dann über die Außenverteidiger-Positionen. Mykolenko und Karawajew waren gegen die Niederlande in vielen 1:1-Duellen Zweite. Und genau das, die Außenbahn, kann der Schlüssel für die Österreicher sein, um zu Torchancen zu kommen.
Schlüsselspieler. Andrij Jarmolenko hat mit dem linken Fuß große Qualität. Und er scheint fit zu sein, das war er in seiner Zeit bei Dortmund zu selten. Alexander Sintschenko spielt zwar auf dem Papier eine andere Position als bei Manchester City und Pep Guardiola, aber er bespielt als „Inverted Full-Back“ oft dieselben Räume wie bei City mit der taktischen Flexibilität des eingerückten Außenverteidigers. Bleibt Roman Jaremtschuk: Ein wuchtiger Stürmer, der fast immer zwei Innenverteidiger bindet – ein „richtiger“ Neuner eben.
Philipp Semlic