Es ist noch nicht allzu lange her, da war der traditionelle Medientermin der österreichischen Abfahrtsmannschaft in Kitzbühel der größte des Winters. Aufgeteilt in Gruppen, ausgestattet mit engen Zeitfenstern, durften die Gladiatoren der Streif von (Medien-)Gruppe zu Gruppe wandern, ihre Antworten in Mikrofone und Telefone sprechen. Dann kam die Pandemie – und nach der Pandemie das unerwartete Schrumpfen der Abfahrtsmannschaft. Am Mittwoch wurde in Kitzbühel nicht trainiert – zum einberufenen Medientermin kamen diesmal nur eine Handvoll Journalisten. Und Vincent Kriechmayr.

Der Oberösterreicher war wie alle anderen unerwartet mit dem Rücktritt von Matthias Mayer konfrontiert. Mit dem ungewollten Aufstieg zur alleinigen Nummer eins, mit der Rolle des "Leitwolfs", die er so gar nicht einnehmen will. "Die gibt es nicht. Wir haben ein super Teamgefüge, der Schmäh rennt. Wir "Alten" ziehen die Jungen auf, ja, aber die sind auch goschert", sagt Kriechmayr. Freilich sei da Respekt der folgenden Generation vor seinen Leistungen, "aber sicher keine Ehrfurcht". Man sei einfach eine tolle Truppe, das sei auch wichtig. Denn: "Man lernt von keinem anderen so viel wie von Teamkollegen. Selbst wenn wir exzellente Trainer haben."

Zehn Prozent vom Preisgeld als Spende

Kriechmayr selbst hat viel von Matthias Mayer gelernt. "Ich habe nach seinem Rücktritt lange überlegt, was er mich gelehrt hat, was ich nicht vergessen sollte. Und vor allem, wie er an Sachen herangegangen ist", erzählt der 31-Jährige. "Er war", erzählt er, "ein gemütlicher Typ. Da konnte es schon sein, dass er am Tag vor dem Rennen in die Sauna und ich zum Trainieren gegangen bin. Geschwitzt haben wir beide, aber am nächsten Tag hat er mich herpaniert. Weil, wenn es um etwas gegangen ist, hat er immer abgeliefert." Ein Freund werde der Kärntner bleiben, auch die WhatsApp-Gruppe der Abfahrer hat er noch nicht storniert.

Und: "Wir haben einen Verein gegründet, was gar nicht so leicht ist, Obmann ist der Mothl", erzählt Kriechmayr. Der Verein mit dem Namen "ÖSV Speed Charity" hilft Menschen in Notsituationen. Vergangenen Sommer etwa einem Mann, der beim Boarden eine Querschnittlähmung erlitt. Der Kauf eines Rollstuhls wurde unterstützt. Lukriert werden die Mittel aus dem Team: "Jedes Mitglied des Nationalteams spendet zehn Prozent des Preisgelds", sagt Kriechmayr, dem die Erwähnung des Vereins fast unangenehm ist: "Wir wollten das gar nicht in die Öffentlichkeit bringen. Aber es geht darum, zu zeigen, dass wir dankbar sind. Dafür, dass wir mit unserem Sport Geld verdienen dürfen. Und wir wollen Vorbilder sein und zeigen, dass wir nicht nur auf uns schauen."

In Kitzbühel fehlt derzeit das letzte Vertrauen

Auf sich schauen, das muss Kriechmayr auch in Kitzbühel. Denn die Streif und er, das ist in der Abfahrt derzeit keine uneingeschränkte Liebesbeziehung. "Ich habe hier in den letzten Jahren einfach nicht den Flow gefunden." Und in Kitzbühel, da geht es darum, 100 Prozent sicher zu sein. "Hier musst du der Chef sein, dann beherrschst du Material und Strecke, sofern das hier überhaupt geht. Auf diesen Level musst du kommen", sagt er und unterstreicht: "Der Großteil spielt sich im Kopf ab. Wenn du gut am Ski stehst und merkst, du kannst zu 100 Prozent attackieren, dann machst du das auch. So wie es Kilde oder Odermatt derzeit tun." 

Er selbst habe dieses Gefühl bei der WM 2021 verspürt. "Da bin ich mit zwei Siegen im Super-G zur WM gekommen. Und ich habe gewusst: Wenn ich keinen Fehler mache, wenn ich alle Schwünge ziehe, dann gewinne ich auch. Und so war es auch. Und den Flow habe ich dann in die Abfahrt mitgenommen." Dort fuhr er mit breiter Brust – und Glück: 1/100 reichte zum Sieg ...

Kitzbühel, das war für Kriechmayr einst Antrieb, um Skifahrer zu werden. "In der Volksschule haben wir Pause gemacht, um zuzuschauen, daran kann ich mich erinnern. An seine Helden, Hermann Maier, Hannes Trinkl."  Umso schwerer ist es, wenn sich der Doppelweltmeister entscheiden müsste zwischen WM-Gold oder Streif-Sieg? "Beides", sagt er da und lacht. Und erzählt, dass er vor seinem ersten Kitzbühel-Start in der Abfahrt 2015 den Film "One Hell Of A Ride" angesehen hatte: "Genauso bin ich dann gefahren", sagt er lachend.

Immer wieder neigt Kriechmayr dazu, sich selbst härter zu kritisieren als andere ihn. Der Grund? "Skisport ist einzigartig, weil es das 'perfekte Spiel', also die perfekte Fahrt, nicht gibt. Man kann immer etwas verbessern und das macht es so einzigartig. Dazu kommt: Mein Anspruch und Ziel ist es, Rennen zu gewinnen. Da bin ich vielleicht ein paar Mal zu selbstkritisch – aber es ist ja auch nicht falsch, wenn man sich selbst nicht anlügt ..."