"Chi non salta nerazzurro è, chi non salta nerazzurro è", immer wieder stimmten es die Fans des AC Milan auf dem Piazza Duomo am Montag an. Sie brüllten: "Wer nicht hüpft, der ist ein Schwarzblauer." Wer nicht hüpft, der ist ein Inter-Fan. Fans des Stadtrivalen waren an diesem Nachmittag und in dieser Nacht keine zu sehen. Dafür besetzten die "Milanista" die Modestadt Mailand. Die eigentliche Meisterfeier mit den Fans in der Heimatstadt musste auf Montagabend verschoben werden, weil die Meistermannschaft erst in den Morgenstunden, gegen 1 Uhr, nach dem entscheidenden Punktegewinn aus Sassuolo in Mailand angekommen ist.
Trotz später Stunde präsentierten sie den hartgesottenen Fans der "Curva Sud" in der Nacht noch die Trophäe, die erste Meisterschaft seit der Saison 2010/2011. Zlatan Ibrahimovic, jener alter Schwede, der die junge Milan-Mannschaft rund um die jungen Supertalente Rafael Leao und Sandro Tonali mental meistertauglich gemacht hat, übernahm auch nun die Rolle des Leaders. "Mailand ist nicht Milan, Italien ist Milan. Forza Milan, per sempre", schrie er ins Mikrofon. Es schien, als sei das Pulver für die Meisterfeierlichkeiten bereits in der ersten Nacht verschossen.
Doch die Truppe von Trainer Stefano Pioli raffte sich für das große Fest am Montag auf, wie auch sportlich so oft in den vergangenen Jahren – und auch in dieser erfolgreichen Saison. Man verlor wichtige Spiele gegen "kleine" Gegner, etwa gegen Spezia. Profitiert hat man von der Schwäche der Gegner. Juventus Turin verpatzte den Saisonstart nach dem Abgang von Superstar Cristiano Ronaldo. Die SSC Napoli scheiterte einmal mehr am wachsenden Druck im Saison-Finish – und der ungeliebte Stadtrivale des AC Milan, Internazionale, stabilisierte sich nach dem verlorenen Derby im Februar dieses Jahres nicht mehr richtig. Damals waren die "Nerazzurri" bis zur 75. Minute in Front, ehe Olivier Giroud das Spiel innerhalb von drei Minuten im Alleingang drehte. Milan siegte im Derby. Die Metropole war also zum ersten Mal seit Langem wieder rot-schwarz.
Das erste "Derby della Madonnina" der Saison, im November 2021, war für viele Fans des AC Milan aber noch wesentlich einschneidender. Hakan Calhanoglu, er wechselte vor der Saison vom AC zu Inter um Meister zu werden, verwandelte in der elften Minute einen Elfmeter – und jubelte vor der AC-Kurve, der "Curva Sud" süffisant und provokant. Çalhanoglu war nun endgültig die Hassfigur des Milan-Anhangs, und auch seiner ehemaligen Mitspieler, wie sich am Montag herausstellte.
Pioli wechselte das Lager
Gegen 19 Uhr startete der "pullmann scoperto", der offene Bus, beim Vereinssitz des AC Milan. Mit dem Auto braucht man für die Strecke vom "Casa Milan" bis zum Domplatz maximal eine halbe Stunde. Die Fans am Piazza Duomo warteten vier Stunden. Unter ihnen waren auch Österreicher, eindeutig erkennbar am Innsbrucker Dialekt. Langweilig wurde ihnen nicht. Die Capos der "Curva" haben ihre Leute auf der Reiterstatue Vittorio Emanuele II. platziert. Sie heizten der Menge mit Sprechchören ein. Gefeiert wurde die Mannschaft und vor allem Stefano Pioli, der Meistertrainer. Bei seiner Ankunft im Oktober 2019 geisterte schon der Hashtag "#PioliOut" durch Twitter, Facebook und Instagram. Er pflegte vor seinem Milan-Engagement Sympathien zum FC Internazionale und trainierte ihn sogar für ein gutes halbes Jahr, ehe er entlassen wurde. Gestern sangen die Fans immer und immer wieder "Pioli is on fire" – für sie ist er nun ein "Milanista". Pioli hat sich am Montag bereits den "Scudetto" tätowieren lassen. Der "Scudetto" ist ein kleines Schildchen mit der italienischen Flagge, den die Meistermannschaft in der nächsten Saison auf ihr Trikot nähen darf.
Vor dem Mailänder Dom traf im Laufe des Abends auch der ehemalige Präsident ein, Silvio Berlusconi. Er führte die Rossoneri einst zu den großen internationalen Erfolgen. Vor seiner Truppe rund um die Holländer Frank Rijkaard, Marco Van Basten und Ruud Gullit zitterte ganz Fußball-Europa. Zu Berlusconi pflegen die Fans des AC Milan heute noch eine ambivalente Beziehung, wie sich gestern zeigte. Die einen pfiffen ihn aus, die anderen skandierten: "Il Presidente".
Zlatans Versprechen
Auf dem Piazza Duomo wurde aber nicht nur die AC Milan gefeiert. Die Stunde des Erfolgs wurde genutzt, um den Stadtrivalen zu verspotten, allen voran Hakan Çalhanoğlu. Jener Hakan Çalhanoğlu, der die Milan-Fans im ersten Derby der Saison vor der Curva Sud im altehrwürdigen San Siro verspottet hat. "Vendetta" übten nicht nur die Fans des AC Milan. Gegen 23 Uhr kamen die Spieler im offenen Bus am Piazza Duomo an. Vor dem Bus marschierte der harte Kern der Curva Sud, aus den Lautsprechern tönte "We are the Champions" von Queen. Bei Temperaturen jenseits von 25 Grad Plus und roten Bengalos kochte die Stimmung. Zwischen 200.000 und einer Million Fans sollen – je nach Quelle – in der Stadt gewesen sein.
In diesen Sekunden ließ sich Links-Verteidiger Theo Hernandez zu einem bösen Schmähgesang gegen seinen ehemaligen Kollegen Çalhanoğlu hinreißen. Alt-Star Zlatan Ibrahimovic war jener Mann, der die Fahrt durch die Mailänder Altstadt am meisten genoss. Als er am 1. Januar 2020 beim AC Milan unterschrieb, versprach er den Fans den "Scudetto". Er hielt sein Versprechen – und halb Mailand liegt ihm spätestens jetzt zu Füßen.
Michael B. Egger