Die Tops
Offensivdrang und Drama: Überraschend mutig ging es bei dieser EM zu. Teams mit Offensivambitionen wurden oft belohnt, die EM endet mit einem Torrekord seit Einführung der Gruppenphase bei Endrunden. Selbst wenn im Finale kein Treffer fällt, hätte es 2,745-mal pro Spiel "geklingelt". 2000 in den Niederlanden waren es durchschnittlich 2,742 Tore. Und spannend ging es zu: Die Hälfte der 14 K.o.-Spiele vor dem Finale ging in die Verlängerung.
Die Flügelspieler: Nicht nur für Trainer-Legende Fabio Capello haben die Flügelspieler - Außenverteidiger wie Außenstürmer - besondere Duftmarken gesetzt. Englands Sterling, Italiens Chiesa, Spinazzola und Di Lorenzo, der Niederländer Denzel Dumfries oder Dänemarks Joakim Maehle gehörten zu den auffälligsten Spielern des Turniers.
Italien: Die Squadra zog nicht nur ins EM-Finale ein, sie brach auf größter Bühne mit alten Traditionen: Italien ist unter Roberto Mancini längst kein Defensiv-Apostel mehr, die Azzurri begeisterten mit herzerfrischenden und wohlgetrimmten Offensiv-Vorstellungen, scheuten aber - wenn es darauf ankam - nicht den Blick ins Catenaccio-Handbuch. Das bekam nach einigem Kampf auch das ÖFB-Team zu spüren.
ÖFB-Team: Den ersten Sieg einer österreichischen Mannschaft bei einer EM-Endrunde feierten David Alaba und Co. gleich im ersten Spiel gegen Nordmazedonien (3:1), so richtig in Stimmung kamen die rot-weiß-roten Fans aber erst zum Ende der Gruppenphase. Mit einem 1:0 gegen die Ukraine gelang der Sprung ins Achtelfinale, in der die Auswahl von Franco Foda Mitfavorit Italien einen heißen Fight auf Augenhöhe lieferte und sich erst in der Verlängerung mit 1:2 geschlagen geben musste.
Dänemark: Erst bangt ganz Fußball-Europa um das Überleben von Christian Eriksen. Seine Mitspieler reagieren nach dem Herzstillstand ihres Star-Spielers vorbildlich, bilden einen Sichtschutz, dann der herzerfrischende, offene Umgang mit den eigenen Emotionen. Und letztlich ein sportlicher Siegeszug unter Trainer-Taktiker Kasper Hjulmand, der Danish Dynamit bis ins Halbfinale vorstoßen lässt. Erinnerungen an den Sensationstitel 1992 wurden wach.
Cristiano Ronaldo: Zur erfolgreichen Titelverteidigung reichte es mit der portugiesischen Auswahl nicht und auch Ronaldos Auftritte sollen schon einmal besser gewesen sein. Dafür sammelte der inzwischen 36-jährige Superstar weiter fleißig Rekorde. Ronaldo erzielte bei diesem Turnier fünf Tore und ist mit nun 14 Treffern bei EM-Endrunden mit Abstand die Nummer eins. Mit gesamt 109 Länderspiel-Toren stellte er auch die Bestmarke des Iraners Ali Daei ein.
Der Kniefall: Als das politische Symbol schlechthin wird der Kniefall von diesem Turnier in Erinnerung bleiben. Vor jeder ihrer Partien gehen die englischen Nationalspieler kurz vor dem Anpfiff für einen Moment mit dem Knie auf den Boden - als Geste gegen Rassismus. Einige Teams solidarisierten sich, andere lehnten den Kniefall ab. Österreichs Nationalteam kniete nie.
Und die Flops:
Die Gruppe F: Mit Weltmeister Frankreich, EM-Titelverteidiger Portugal und Deutschland spielten drei Mitfavoriten in der "Horrorgruppe". Das Trio hatte aber schon in der Gruppenphase mit dem krassen Außenseiter Ungarn Probleme, im Achtelfinale kam schließlich für alle drei Teams das frühe Aus. Frankreich verspielte gegen die Schweiz einen Zwei-Tore-Vorsprung und schied im Elfmeterschießen aus, Portugal musste sich Belgien mit 0:1 geschlagen geben und Deutschland unterlag England mit 0:2.
Kylian Mbappe: Der 22-jährige Stürmer war der designierte Topstar dieser EM. Doch im Generationsduell mit Cristiano Ronaldo konnte der Weltmeister von Paris Saint-Germain bei weitem nicht mit. Mit guten Aktionen, aber ohne Torerfolg ging es ins Achtelfinal-Duell mit der Schweiz, in dem Mbappe den entscheidenden Elfmeter verschoss und damit zu Frankreichs tragischem Helden avancierte.
Türkei: In der Qualifikation hatten die Türken mit einem Sieg über Weltmeister Frankreich, 23 Punkten aus zehn Spielen und nur drei Gegentoren überzeugt, mancherorts qualifizierte die Auswahl vom Bosporus sogar als Geheimfavorit. Die Endrunde wurde für Teamchef Senol Günes und sein Team aber mit null Punkten und 1:8 Toren zur Blamage.
UEFA-Politik: Druck auf Dänemark nach dem Eriksen-Zusammenbruch, das Abwälzen der Verantwortung in der Corona-Frage auf die lokalen Behörden und dann noch ein Regenbogen-Verbot: Der Kontinentalverband schoss nicht nur mit der Untersagung, die Münchner Arena vor dem Spiel gegen Ungarn in Regenbogenfarben zu illuminieren, ein Eigentor.
Eigentor-Flut: Die neue Höchstzahl scheint unüberbietbar. Gleich elfmal bugsierten Akteure einer verteidigenden Mannschaft den Ball ins eigene Tor - öfter als bei allen bisherigen Endrunden zusammen (9). Es gibt Erklärungen. Die vielen Tempo-Gegenstöße und Flankenbälle mündeten in Aktionen, in denen (müden?) Verteidigern und Torhütern krasse Fehler unterliefen.
EM-Modus: Die Aufstockung auf 24 Teams brachte schon 2016 die Schwierigkeit mit sich, für das Achtelfinale aus sechs Vierergruppen 16 Teams zu filtern. Weil so auch die vier besten Gruppendritten weiterkamen, ergeben sich mehrere Probleme: Manche Teams müssen tagelang auf Gewissheit warten, andere können sich mit Blick auf die Tabelle der Gruppendritten im abschließenden Spiel mit bestimmten Ergebnissen zufriedengeben. Ändern wird sich daran auch 2024 beim Deutschland-Turnier nichts.
Gesprächsstoff:
Emotion vs. Superspreader: Endlich wieder Stimmung - oder ein Hochfest für das Coronavirus? In Budapest ein volles Haus, in London befeuerten "Sweet Caroline" schmetternde Engländer die Euphorie. Die Fangesänge und volle Stadien lösten endlich die trostlosen Bilder mit leeren Stadien ab, doch es bleibt die Frage der Verhältnismäßigkeit. Müssen die Emotionen, die König Fußball einforderte, im Nachgang mit der Gesundheit von Menschen bezahlt werden?
Der VAR und das Abseits: Erstmals kam bei einer EM-Endrunde der Videoschiedsrichter-Assistent (VAR) zum Einsatz. Lange Wartereien gab es praktisch keine, die Entscheidungen bei den zu bewertenden Szenen wurden schnell und überwiegend richtig getroffen. Völlig ausgereift ist das technische Hilfsmittel aber nicht. Vor allem die extrem spät getroffenen Abseits-Entscheidungen rufen Kritiker und VAR-Skeptiker auf den Plan.