War der Ball im Tor oder war er es nicht? Zumindest heißt der Treffer von Geoff Hurst im WM-Finale zwischen Deutschland und England 1966 „Wembley-Tor“. „Wembley-Nicht-Tor“ wäre allen Erkenntnissen der fußballerischen Neuzeit zufolge vielleicht treffender. Untersuchungen – unter anderem der Universität Oxford – sollten belegen, dass der Treffer nicht hätte zählen dürfen. Erst vor wenigen Jahren ist ein Super-8-Film aufgetaucht, der wiederum das Gegenteil beweisen soll. Der Mythos bleibt also noch mindestens weitere 55 Jahre am Leben. So lange läuft nach dem Gewinn der Weltmeisterschaft auch die titellose Zeit der Engländer.
Am Dienstag sehen sich die beiden Nationalmannschaften im Achtelfinale der Euro 2020 im ehrwürdigen Wembley wieder. Die Briten haben sich mit sieben Punkten souverän qualifiziert, die Deutschen waren in ihrer Gruppe weniger als sechs Minuten vom nächsten Ausscheiden in einer Vorrunde nach der WM 2018 entfernt.
Ist das Team von Gareth Southgate damit automatisch Favorit? Nicht wirklich. Zum einen waren die beiden Gruppen kompetitiv nicht zu vergleichen, zum anderen herrscht auf der Insel seit Jahrzehnten so etwas wie ein grundsätzlicher Respekt, wenn nicht sogar eine kleine Phobie, vor Schwarz-Rot-Gold. Seit dem Titelgewinn im eigenen Land hat man in Deutschland auf höchster Ebene so etwas wie einen Angstgegner gefunden.
„Her mit den Deutschen!“, forderte der „Telegraph“, „Oh nein, es sind die DEUTSCHEN!“, zittert bereits die „Daily Mail“. Und das nicht ganz unbegründet, wie ein Blick zurück verrät: Aus im Viertelfinale der WM 1970 in Spanien. Nach 2:0-Führung drehten Franz Beckenbauer, Uwe Seeler und Gerd Müller die Partie. Aus im Halbfinale der WM 1990 in Italien. Stuart Pearce und Chris Waddle vergaben ihre Elfmeter. Aus sechs Jahre später bei der Heim-Euro. Der heutige Teamchef Southgate scheiterte mit seinem Elfmeter an Andreas Köpke, dem heutigen Tormanntrainer der DFB-Auswahl. „Trainiert Elfmeter, Jungs!“, gab die „The Sun“ daher ihrem Team nicht ohne Grund einen wohlwollenden Tipp mit auf dem Weg. Beim letzten hochrangigen Aufeinandertreffen bei der WM 2010 setzte es für England im Achtelfinale ein 1:4. Doppeltorschütze Thomas Müller sowie Manuel Neuer und Toni Kroos waren damals schon dabei.
Für Joachim Löw könnte das 198. Spiel als Bundestrainer das letzte sein. „Es war eines der schwierigsten Spiele überhaupt. Das war nichts für schwache Nerven. Doch die Mannschaft wollte das biegen“, sagte Löw über Spiel Nummer 197 gegen Ungarn. Die schon bei der Weltmeisterschaft vor drei Jahren offensichtlich gewordenen spielerischen Probleme lassen sich – wie es bei den Deutschen manchmal vorkommen soll – dieses Mal auch im Turniermodus nicht verbergen. Zumindest bis jetzt. „Wir werden anders auftreten“, gab Löw noch vor der Vorbereitung auf das Spiel am Dienstag ein Versprechen ab.
Doch auch der Gegner ist nicht frei von Problemen. Ein Spiel, das einem Titelaspiranten würdig wäre, war trotz dreier Heimspiele bisher noch nicht zu sehen. Dabei hapert es vor allem im Angriff. Mit Raheem Sterling (2) haben die Engländer bisher nur einen Turnier-Torschützen in ihren Reihen. Kapitän Harry Kane scheint weit entfernt von alter Stärke. Dafür ist die Defensive noch ohne Gegentor geblieben. „Wir verbessern uns weiter, es ist nicht leicht, uns zu schlagen“, bleibt Southgate für die Mission Titel zuversichtlich.