Geht ein Fenster zu den Hintergründen auf, dann lassen die TV-Schirme in ihrem Dauereinsatz für Sportevents auch einmal Platz für ernüchternde Einblicke. So stellt sich nach all den Skandalen der letzten Jahre – Korruption, Betrug und Missbrauch aller Arten – die Frage, wem und welcher Behauptung überhaupt noch zu trauen sei. Dies umso mehr, als die Sportfürsten in ihrer neofeudalen Selbstgerechtigkeit eine humanitäre Mission auf ihre Fassaden schreiben, sodass in Fifa und IOC einige meinen, es stehe ihnen der Friedensnobelpreis zu.
Die Leistungssteigerung ist im Sport entsprechend der Moderne, mit der er seit Ende des 19. Jahrhunderts groß wurde, angelegt. Citius, altius, fortius lautet seit Baron de Coubertin das Steigerungsmotto der Olympier. Dafür mussten die Athleten zwar Amateure sein, aber das, was heute als Doping gilt, war zunächst als probates Mittel angesehen. Der Sieger im olympischen Marathonlauf 1904 nahm auf der Strecke eine Prise Strychnin, einen Brandy und Eigelb zu sich, ein mitfahrender Arzt und ein Funktionär konstatierten erfreut, „dass Drogen für die Athleten bei einem Straßenlauf von Nutzen sind“.
Die Einstellung änderte sich, als der Sport professionalisiert und zum Kommerz wurde. Einen Dopingtoten wie 1960 bei den Spielen in Rom (am Beginn der enormen Präsenz des Sports in unseren Medien) konnte das Image, das mit den Stichwörtern Sauberkeit und Völkerverbindung Werbemillionen einbrachte, nicht brauchen. Risse der Fassade schrecken Marketingpartner ab.
Dieser Betrieb funktioniert im Neoliberalismus umso besser, als citius, altius, fortius dessen (falschen) Glaubenssatz, dass Wachstum ein Naturgesetz sei, und dessen Gebot der Selbstoptimierung folgt. Kein Naturgesetz, aber systembedingt sind Verhaltensweisen und Vorgänge in jenen Institutionen, die die Großveranstaltungen organisieren. Die abgehobene Feudalstruktur fördert wie im Wirtschaftssystem unmoralische bis kriminelle Auswüchse und Schönfärberei. Am auffallendsten treibt dies Fifa-Präsident Gianni Infantino voran, indem er zur endgültigen Privatisierung drängt, um zugleich vom Status als gemeinnütziger Verein zu profitieren.
Das viele Geld, das heute mitläuft, kassieren Stars und Manager einiger Disziplinen, während andere – wie ein Rodelolympiasieger – gerade mal die Peanuts bekommen. Mit Gewissheit verdienen die großen Verbände, von denen nicht wenige im Zentrum der jüngsten Skandale standen. Allein im letzten Jänner liefen Ermittlungen gegen den Weltverband der Biathleten, wanderte der Fußballchef Perus ins Gefängnis, wurden in Spanien groß angelegte Manipulationen von Tennismatches aufgedeckt. Dort war im Juli 2017 der Präsident des Fußballverbandes, zugleich Vizepräsident der Fifa und ausgerechnet Leiter von deren Justizkommission, wegen Korruption, Fälschung und Unterschlagung verhaftet worden. Die Fifa hatte das als „interne Angelegenheit“ der Spanier bezeichnet.
Abenteuerlicher bis skurriler Ausreden befleißigen sich nicht nur ertappte Athleten, sondern auch die Sportfürsten. Eine der lachhaftesten brachte der ÖSV-Herrscher 2006 bei Olympia in Turin vor: „Austria is a too small country to make good doping.“ Nun hat er in seinem Reich zum wiederholten Mal mit Doping zu tun und ereifert sich, das seien lauter Einzelfälle.
Die Einzelfälle dieser Betrügereien sind jedenfalls den positiv getesteten Athleten anzulasten.
Nicht das Ideal des Dabeiseins, sondern die Ideologie ungehemmter Leistung hat sich in einer Medienwelt der Sportshow durchgesetzt. Das citius, altius, fortius trifft auf einen alten Traum der Menschheit: die künstliche Leistungssteigerung. Im Wettkampf um Renommee und Geld, um Aufmerksamkeit der Öffentlichkeit und der Sponsoren ist die Versuchung groß, zu unlauteren Mitteln zu greifen. Siegerlisten müssen immer öfter neu geschrieben werden; wer Vierter wird, kann Jahre später Gold bekommen. Eine nachträgliche Medaillenüberreichung hat jedoch nie die Resonanz, wie sie die mediale Aufmerksamkeit während des Großereignisses bringt. Das Risiko einer späteren Aberkennung ziehen offenbar manche Athleten der Möglichkeit einer Niederlage vor.
Gegen Doping sprechen medizinische und moralische Argumente. Betrug verletzt den Grundsatz, dass alle Konkurrenten unter gleichen Bedingungen antreten sollten. Deswegen wurden eben Normen für die Sportgeräte eingeführt. Das Doping widerspricht der – auch vom IOC gepflogenen – Behauptung, Sport bedeute Natürlichkeit, Gesundheit, Fairness.
Die illegale Steigerung einer Leistung, die oft halbherzige Kontrolle der Leistungsträger und die Bemühungen gegen Doping, während zugleich den Helden der Leistung scheinbar unbegrenzt gehuldigt wird – das sind Kennzeichen der gesellschaftlichen und kulturellen Lage unserer heutigen Welt.
Nein, es sind nicht lauter Einzelfälle. Um beim österreichischen Langlauf zu bleiben: Seit 2000 waren von allen heimischen Athleten, die Weltcuppunkte errangen, nachweislich 50 Prozent gedopt, von jenen auf Podiumsplätzen – alle! Da soll kein Verantwortlicher etwas gemerkt haben?
Hinter den Fassaden schaltet ein System der großen Sportorganisationen, denen nicht zu trauen ist. Über deren Hinterzimmer berichten unsere Medien viel zu wenig – in Österreich nicht weiter verwunderlich: Die engen Beziehungen zwischen Verbänden wie ÖSV und ÖFB mit der einflussreichsten Zeitung und dem ORF bringt meist nicht mehr hervor als eine Hofberichterstattung.
Die großen Verbände herrschen autokratisch. Der zentrale Satz in der Charta des IOC, das gegen das russische Staatsdoping lasch vorgegangen ist, lautet: „Die Beschlüsse des IOC sind endgültig.“ Der ÖSV-Präsident hat 2014 in Sotschi den Athleten politische Äußerungen verboten, die Olympier untersagen ihnen (gegen Bestimmungen des Kartellrechts) eigene Werbung. Der Grazer Jurist Andreas Thomasser sieht den „Verbandsuntertan“ als Opfer des Lehrbeispiels, wie sich „oligarchische (Spezial)Interessen über Jahre hinweg im Staat, in der Politik und in den Medien“ durchzusetzen vermochten.
Wie sollte man Fifa oder IOC trauen, wenn sie sich als gemeinnützig behaupten, während sie auf einer Milliarde Euro als „Reserve“ sitzen und kaum Steuern zahlen? Wie soll man Olympiern trauen, wenn ihre Gigantomanie Sportruinen und ökologische Desaster hinterlässt?
Das Problem des heutigen Sportbetriebs liegt zunächst im System. Funktionäre der reichen Organisationen handeln wie Fürsten, gehen mit ihren Veranstaltungen lieber in Diktaturen und leben vom Fassadenschwindel.
Olympia, ein „Kulturerbe der Menschheit“, gehört nicht der Menschheit, sondern einem Schweizer Verein. Besser lässt sich der gängige Neoliberalismus mit seiner Privatisierungsmanie bei gleichzeitiger Sozialisierung der Kosten kaum illustrieren.
Ob sich Athleten und Fans das gern träumen lassen?
Klaus Zeyringer