Auch mit dem spektakulären Urteil von bis zu 175 Jahren Haft ist der Skandal um den ehemaligen US-Turnarzt Larry Nassar nicht beendet. Gegen den US-Turnverband und das frühere Umfeld Nassars richten sich bohrende Fragen. Richterin Rosemarie Aquilina und die Opfer Nassars erhoffen sich von dem historischen Spruch auch eine abschreckende Signalwirkung.

Die ehemalige Turnerin Rachael Denhollander hatte am Mittwoch die letzte Sitzung einer siebentägigen Anhörung in Lansing mit flammender Kritik begonnen. "Für uns als Gesellschaft bedeutet das: Das kommt davon, wenn verantwortliche Erwachsene nicht angemessen auf Enthüllungen sexuellen Missbrauchs reagieren. Das kommt davon, wenn Institutionen eine Kultur schaffen, in der ein Raubtier unerschrocken und ohne Einschränkung gedeihen kann", klagte Denhollander.

"Ich habe gerade Ihr Todesurteil unterzeichnet"

Sie spielte damit darauf an, dass die Lawine der Anschuldigungen gegen Nassar sich erst viele Jahre nach den Taten Bahn gebrochen hatte. Auslöser waren mutige Zeugenaussagen seinerzeit von Nassar missbrauchter Turnerinnen und die hartnäckige Berichterstattung der Zeitungen "Indy Star" und "Lansing State Journal". Denhollander war die erste gewesen, die sich 2016 gegen Nassar auszusagen getraut hatte. Sie war 15 Jahre alt, als sie missbraucht wurde. 16 Jahre später sagte sie aus.

Am Mittwoch war Nassar wegen massenhaften sexuellen Missbrauchs junger Turnerinnen zu bis zu 175 Jahren Haft verurteilt worden. Am im TV live übertragenen letzten Tag der Anhörung sagte Richterin Aquilina an den 54-Jährigen gewandt: "Ich habe gerade Ihr Todesurteil unterzeichnet."

Die Richterin dankte Denhollander für den Mut ihrer ersten Aussage: "Sie sind eine der tapfersten Personen, die ich jemals in meinem Gerichtssaal gesehen habe. Mit Ihnen begann die Flutwelle." Aquilina bestimmte, dass Nassar mindestens 40 Jahre im Gefängnis bleiben muss.

Mehrere Olympiasiegerinnen unter den Opfern

Das Strafmaß dieses Prozesses wurde zu einem anderen Urteil addiert. Nassar war nämlich wegen des Besitzes von Kinderpornografie bereits zu einer Haftstrafe von 60 Jahren verurteilt worden.

Bis zum Mittwoch waren bei dem Prozess 156 Mädchen und Frauen angehört worden, darunter auch mehrere Olympiasiegerinnen. Sie schilderten die kriminellen Machenschaften des Mediziners in allen Einzelheiten. Nassar hatte sich im November des Vorjahres schuldig bekannt. Die meisten seiner Opfer waren minderjährig. Ein Mädchen war zum Tatzeitpunkt sogar erst sechs Jahre alt.

Nassar bat seine Opfer vor Gericht um Entschuldigung: "Eure Worte haben mich zutiefst erschüttert. Ich werde diese Worte bis ans Ende meines Lebens in mir tragen."

Generalstaatsanwaltschaft dankte den Journalisten

Angela Povilaitis von der Generalstaatsanwaltschaft Michigan sagte: "Seine Lügen haben funktioniert. Jede frühere Anschuldigung ging ins Leere. Was sagt es über unsere Gesellschaft, wenn sich Opfer sexuellen Missbrauchs über Jahre verstecken müssen?" Ausdrücklich dankte Povilaitis den Journalisten, die den Fall aufzudecken halfen.

Am Montag war die Spitze der Geschäftsführung des Turnverbandes US Gymnastics wegen Vorwürfen zurückgetreten, Nassars Machenschaften lange Zeit gedeckt zu haben. Fragen richten sich auch an die Michigan State University, an deren Fakultät Nassar Jahrzehnte tätig war. Außerdem sind eine Reihe von Zivilverfahren anhängig.

USOC kündigt unabhängige interne Untersuchung an

Das Nationale Olympische Komitee der USA (USOC) kündigte nach dem Urteil gegen Nassar eine eigene, unabhängige Untersuchung an. Sie solle aufklären, warum Missbrauchsfälle eines derartigen Ausmaßes so lange nicht verfolgt worden seien, schrieb USOC-Chef Scott Blackmun am Mittwoch in einem Offenen Brief.

Das NOK erwäge weiterhin, dem Turn-Verband USA Gymastics die Zulassung als nationalem Verband zu entziehen, sollte dieser bei der angestrebten Restrukturierung nicht umfänglich kooperieren, betonte Blackmun. Bisher habe man auf diesen Schritt verzichtet, weil davon viele Vereine und Athleten betroffen seien, die mit dem Missbrauchsskandal nichts zu tun hätten.