In den Interviews, die Valentina Petrillo in den vergangenen Monaten gegeben hat, sprach sie weniger über Medaillen und Titelwünsche, sondern eher über ihre gesellschaftliche Rolle. „Ich hoffe, dass ich eine Referenz und Inspiration sein kann“, sagte die sehbehinderte Sprinterin aus Italien der Nachrichtenagentur AFP. „Wenn ich es geschafft habe, dann können es auch andere schaffen.“
Valentina Petrillo ist zurzeit in Paris nicht die erste trans Athletin in der Geschichte der Paralympics, wie zuletzt vielfach berichtet wurde. 2016 in Rio hatte bereits die trans Diskuswerferin Ingrid van Kranen aus den Niederlanden teilgenommen. Doch Petrillo, die in Paris in der Kategorie T12 über 200 und 400 Meter starten wird, dürfte für mehr Aufmerksamkeit sorgen. Schon jetzt wird ihre Biografie international kontrovers diskutiert.
Petrillo, die am Montag 51 Jahre alt wird, wurde bei der Geburt das männliche Geschlecht zugewiesen. Sie hieß zunächst Fabrizio, ging gern laufen und spielte Fußball. Im Alter von 14 wurde bei ihr Morbus Stargardt diagnostiziert, eine seltene Erkrankung der Netzhaut, ihre Sehfähigkeit sank auf 2,5 Prozent.
Einige Jahre später, während ihres Informatikstudiums, begann sie mit Leistungssport. Sie schaffte es in das italienische Nationalteam der Männer im Blinden-Futsal und sie nahm in der Para-Leichtathletik in der männlichen Kategorie an Wettbewerben teil. Petrillo gewann einige regionale und nationale Titel, qualifizierte sich aber nicht für internationale Wettkämpfe. „Ich bin mit angezogener Handbremse gelaufen und war nicht glücklich“, sagte Petrillo der BBC. „Mit Sicherheit nicht so glücklich, wie ich jetzt bin, auch wenn ich ein wenig älter bin.“
Schon seit Jahrzehnten habe sich Petrillo als Frau gefühlt, erzählt sie in einer Dokumentation, die im Herbst in italienischen Kinos anlaufen soll. Mit neun Jahren habe sie Kleidung ihrer Mutter anprobiert. Sie fragte sich: „Ist es besser, ein schneller, aber trauriger Mann zu sein, oder eine langsamere, aber glückliche Frau?“ 2019, mit 45 Jahren, begann Petrillo eine geschlechtsangleichende Hormontherapie.
Seit September 2020 tritt Valentina Petrillo bei Wettbewerben in der Frauenkategorie an. Der Para-Leichtathletikverband „World Para Athletics“ betrachtet das rechtliche Geschlecht als maßgeblich für die Zulassung. Zudem ist der Testosteronwert bei Petrillo während ihrer Hormontherapie unter den maximal erlaubten Wert von 10 Nanomol pro Liter Blut gesunken. Das Internationale Paralympische Komitee IPC überlässt solche Kriterien seinen Fachverbänden.
Bei Paralympics starberechtigt, bei Olympia wohl nicht
Interessant ist, dass Petrillo ohne eine Behinderung wohl nicht in der Frauenkategorie starten dürfte. Der Internationale Leichtathletikverband „World Athletics“ lässt trans Sportlerinnen dort nur zu, wenn sie ihre Geschlechtsangleichung vor Beginn der Pubertät abgeschlossen haben. „Wir stehen insgesamt erst am Anfang einer komplizierten Debatte“, sagt Andrew Parsons, der Präsident des Internationalen Paralympsischen Komitees IPC, in einem Videointerview. „Wir müssen in der Sportgemeinschaft nach einheitlichen Lösungen suchen, die wissenschaftlich fundiert sind.“
Doch von solchen Lösungen ist der internationale Sport weit entfernt. In etlichen Meinungsbeiträgen wird Valentina Petrillo nun mit Imane Khelif verglichen. Die algerische Boxerin war wegen erhöhter Testosteronwerte vom Boxweltverband IBA disqualifiziert worden, durfte aber bei Olympia in Paris starten. Khelif, die sich stets als Frau identifiziert und nie eine Transition vollzogen hat, gewann Gold und geht juristisch nun gegen Diskriminierungen vor.
Auch Valentina Petrillo erlebt seit Jahren Anfeindungen, wie sie gegenüber der BBC berichtete. Zunächst versuchte sie, auf Hasskommentare in sozialen Medien mit Argumenten zu reagieren. Bald darauf erhielt sie auch Morddrohungen. In Italien, wo die rechtsnationale Regierung von Giorgia Meloni immer wieder gegen die „Trans-Ideologie“ Stimmung macht, unterzeichneten bereits 2021 mehrere Sportlerinnen und Sportler sowie aktivistische Gruppen eine Petition, die den Ausschluss von Petrillo von Frauen-Wettbewerben fordert. Ihr Statement: „Petrillos körperliche Überlegenheit macht den Wettbewerb unfair.“
Doch sportlich ist Petrillo nicht dominant. Im Vergleich zu ihrer Zeit in der Männerkategorie, sagt sie, sei ihr Zeit über 200 Meter nun 2,5 Sekunden langsamer. Über 400 Meter sei sie elf Sekunden langsamer. Bei den Para-Leichtathletikweltmeisterschaften 2023 gewann sie auf beiden Strecken jeweils Bronze. Sie selbst betont, dass sie nicht mehr die gleiche Energie habe wie früher und dass sie zwischenzeitlich zehn Kilo zugenommen habe: „Mir ist immer kalt, mein Schlaf ist nicht mehr der Gleiche, ich habe Stimmungsschwankungen.“
Die paralympische Bewegung betrachtet sich als Netzwerk gegen die Benachteiligung von Menschen mit Behinderungen. Nun in der Diskussion um Petrillo wirkt sie so unvorbereitet wie viele andere Sportverbände. Auch in der Wissenschaft gibt es noch keine belastbaren Studien zu den drängenden Fragen: Sind trans Athletinnen auch nach ihrer Geschlechtsangleichung im Vorteil, wenn etwa um Muskelkraft, Lungenvolumen oder Ausdauerfähigkeit geht?
Valentina Petrillo bietet einen Anlass, diese Diskussionen zu vertiefen. Ähnlich wie die neuseeländische Gewichtheberin Laurel Hubbard, die 2021 in Tokio die erste trans Sportlerin bei Olympia war. Petrillo nimmt diese Rolle an und stellt sich auf eine Zunahme der Anfeindungen an, gemeinsam mit ihrem Mentaltrainer. Zudem stellt sie Ideen zur Diskussion. Gegenüber dem Berliner Tagesspiegel schlug sie vor, die Trennung im Sport zwischen zwei Geschlechtern aufzulösen. Man könne Frauen und Männer in der Para-Leichtathletik auf Grundlage von Klassifizierungszeiten gemeinsam starten lassen. Es ist ein Vorschlag, den viele wohl als fortschrittlich betrachten würden. Und andere als pure Provokation.
Ronny Blaschke