Der Boxsport hat wahrlich schon bessere Zeiten gesehen. Bei Olympia stand er schon vor dem Aus, nicht zuletzt wegen des Internationalen Verbandes (IBA), der vom Russen Umar Kremlew geführt wird. Das Internationale Olympische Komitee (IOC) übernahm kurzerhand selbst die Organisation der Bewerbe, die im Pariser Norden abgehalten werden. Und sorgte mit einer Entscheidung für internationale Empörung: Zwei Teilnehmerinnen sollen nämlich keine sein. Die Algerierin Imane Khelif und Yu Ting Lin aus Taipeh waren von der IBA vor einem Jahr von den Weltmeisterschaften ausgeschlossen worden. Sie hätten laut DNA-Test XY-Chromosomen hieß es. Heuer sind sie bei Olympia dabei. Und schon der erste Auftritt von Khelif endete im Skandal: Ihre Gegnerin Angela Carini gab nach dem ersten Treffer auf und klagte an.

Es war eine merkwürdige Stimmung in der Arena „Paris Nord“. Als Imane Khelif, die ihr Geschlecht nie gewechselt hat und immer als Frau sozialisiert war und deshalb als „intersexuell“ gilt, die Halle betrat, brandete Jubel auf. Da schien Carini noch guter Dinge, selbst, wenn Italien noch am Tag zuvor gegen die Teilnahme der Algerierin protestiert hatte. An Khelif scheint sich nun ein diplomatischer Streit zu entzünden. Das IOC, das den internationalen Verband ausgeschlossen hat, stellte in Person von Sprecher Mark Adams klar, „Einzelfälle“ nicht zu kommentieren, denn das „wäre gehässig und unfair. Was ich sagen kann: Jede Athletin, die in den Frauenbewerben teilnimmt, erfüllt alle Kriterien.“ Das algerische Olympische Komitee (COA) wiederum verwehrte sich in einer Aussendung allen Angriffen. „Das COA verurteilt die unethische Ausrichtung und Verunglimpfung unserer geschätzten Sportlerin Imane Khelif durch unbegründete Propaganda seitens bestimmter ausländischer Medien auf Schärfste“, hieß es da. Immerhin sei Khelif auch UNICEF-Botschafterin und, wie Lin, „seit Jahren Teil des Sports“, wie Adams meinte. „Sie sind nicht plötzlich aufgetaucht.“

Khelif gilt in ihrer Heimat als großes Vorbild. Sie habe in ihrem Heimatort Tiaret in Algerien heimlich mit den Burschen Fußball gespielt, weil ihr Vater dagegen war, dass sie als Mädchen Sport betreibt. Schon damals, hieß es, sei sie gut darin gewesen, sich im Kampf auch gegen die Burschen zu wehren. Als sie bei Olympia 2016 Boxen sah, wollte sie es versuchen, musste 10 Kilometer in den nächsten Ort, ebenso heimlich. Ihr Tiefschlag war die Disqualifikation bei der WM vor einem Jahr just vor dem Gold-Kampf. In Paris, so sagte auch das COA, soll sie „den Höhepunkt erleben und Gold holen“.

Bis dahin ist es ein weiter, kontroverser Weg. So wie im ersten Kampf: Nach 46 Sekunden war es vorbei. Khelif, 25 Jahre alt, landete den ersten harten Treffer auf die Nase ihrer Gegnerin, nach dem zweiten war es genug. Die ließ sich noch einmal den Kopfschutz richten, wagte kurz noch einen Versuch – und gab auf. Während die Algerier jubelten, verweigerte Angela Carini den Handschlag, kniete sich auf den Boden der Halle und weinte bitterlich. Die Tränen konnte Carini dann auch vor den Journalisten nicht zurückhalten. „Ich bin eine Kämpferin, eine Azzurri. Mein Vater hat mir beigebracht, eine Kriegerin zu sein. Aber ich spürte nach dem ersten Treffer diesen starken Schmerz, ich konnte einfach nicht mehr.“ Über ihre Gegnerin, die so viele als Gegner sehen, wolle sie aber nicht richten. „Ich bin immer freundlich, ich bin eine Azzurrina mit Ehre. Aber diesmal habe ich nicht mehr kämpfen können.“ Und, so sagte sie: „Ich habe noch nie solch harte Schläge bekommen.“

Sie fühle sich nicht als Verliererin, betonte sie: „Wenn du in diesen Ring steigst, bist du schon eine Siegerin. Aber ich bin eine geborene Frau. Und ich bin ein Instinktmensch. Wenn ich der Meinung bin, dass etwas nicht in Ordnung ist, dann höre ich auf. Das ist kein Aufgeben, das ist die Reife zu sagen: Basta. Das war‘s.“ Auch ihr Trainer meinte, dass die Geschichte sich entwickelt habe: „Wir kennen die Gegnerin, haben auch schon gegen sie gewonnen. Aber das hat alles eine Dynamik begonnen, nachdem die Medien aufgesprungen sind. Ich habe Angela gefragt, ob sie lieber nicht antreten will, aber sie meinte: Nein, das sind meine Spiele!“ Sie waren es nicht. Es war ein kurzer Auftritt voller Schmerzen, auf ungleichem Niveau. Wohl, weil die biologischen Voraussetzungen andere waren.

Und die Olympischen Spiele haben ihren ersten, handfesten Skandal. Tatsache ist: Das IOC wird sich etwas einfallen lassen müssen, um die Frage des Geschlechts künftig besser und zufriedenstellender zu beantworten.