Die Frage lastet bleischwer auf dieser Fußball-Europameisterschaft: Wer soll Spanien stoppen? Ausgerechnet die Engländer? Sie sind aber nicht abgeschafft, sondern existieren immerwährend, die Unwägbarkeiten in diesem ebenso faszinierenden wie mitunter seltsamen Sport. Daher erübrigt sich das Thema. Auch dieses Finale mit den gegenläufigen Vorzeichen wird im Berliner Olympiastadion um 21 Uhr beim Stand von 0:0 angepfiffen. Und ab diesem Zeitpunkt spielen sich Realitäten ab, keine Wahrscheinlichkeiten mehr.

Eines ist aber unbestritten: Die Spanier haben Fußball-Europa mit ihren Darbietungen in seinen Bann gezogen. Und, auch wenn Vergleiche unangebracht sein mögen, sie erinnern mit einem vom damaligen Tiki-Taka stark abweichenden, weil sehr direkt ausgerichteten Stil an ihre große Zeit zwischen 2008 und 2012, als auf unwiderstehliche Weise ein WM- und zwei EM-Titel herausgespielt worden waren.

Chance auf sieben Siege

Weil in der Vergangenheit so manches Ereignis gerne der Verklärung unterliegt, sei erwähnt, dass die Mannschaft des erst nach der WM in Katar zum Amtsinhaber gekürten Luis de la Fuente die Auswahlen seiner erfolgreichen Vorgänger Luis Aragones und Vicente del Bosque mit einem Sieg sogar übertreffen kann. Dann nämlich wären alle Spiele gewonnen worden, was den Welt- und Europameistern aus ihrem Land zuvor nicht gelungen war. 2008 war im Viertelfinale ein Elferschießen gegen Italien nötig, 2010 ging das erste Gruppenspiel gegen die Schweiz 0:1 verloren und die 2012er-Elf musste nach einem 1:1 in der Vorrunde gegen den späteren Finalgegner Italien (4:0) im Halbfinale ein Elferschießen gegen Portugal überstehen.

Die Spanier überzeugten bei der Euro 2024 durch Offensivkraft, Laufstärke, von durch Lamine Yamal und Nico Williams mit jugendlicher Unbekümmertheit unterfütterte spielerisch hochwertigste Kombinationen, technisch hervorragende Einzelkönner, meist enormer Präzision im Passspiel und auch durch beständige Torgefahr, die nicht immer von der gleichen Effizienz begleitet war. Das 1:0 gegen Italien hätte auch ein 5:0 sein können, um das anschaulichste Beispiel zu erwähnen. Schon mit dem ersten Auftritt, dem 3:0 gegen Kroatien, hatte die Furia Roja Fußball-Europa vor Augen geführt, wie ein möglicher Titelanwärter aussehen kann. Sie siegten sich durch, ungeachtet der Klasse ihrer Gegner.

Am seidenen Faden

Dabei überstanden sie komplizierte Situationen und Spielverläufe wie die ungewöhnliche und wohl auch übertriebene deutsche Härte im Viertelfinale, den Ausgleich der ebenso spielstarken Gastgeber knapp vor Ende der regulären Laufzeit und sie überwanden auch den frühen Rückstand gegen Frankreich mit einem kunstvollen Doppelschlag. Dabei bekundeten sie wie gegen Deutschland auch defensive Stabilität, unverwundbar waren sie nicht.

England hingegen sah sich während des gesamten Turnierverlaufs nicht nur mit widerspenstigen Gegnern, sondern auch mit dauerhafter negativer Kritik konfrontiert. Ein knapper Erfolg und zwei Remis bei sehr reduziertem fußballerischen Aufwand reichten für den Gruppensieg und auf dem wesentlich leichteren K.o.-Ast hingen sie unentwegt am seidenen Faden, kamen aber nicht zu Fall. Erst im Halbfinale gegen die Niederlande stellten sie unter Beweis, mit diesem Team bei dieser EM gegen einen großen Gegner bestehen zu können.

„Wir sind als Gruppe stark und wenn wir keine Angst vor der Niederlage haben, gibt uns das eine größere Chance auf den Sieg“, meinte Southgate am Vorabend des Finales. Kapitän Harry Kane legte nach: „Jetzt heißt es rausgehen und abliefern.“ Sie stehen zu ihrer Verantwortung. „Wir wissen, was dieses Spiel für uns und unsere Landsleute bedeutet. Das gibt uns eine Extra-Motivation.“ De la Fuente entgegnete mit Gelassenheit. „Wir sind glücklich, im Finale zu stehen, sind aber auch sehr ruhig.“