So wie sich einer der langen Alpenpässe vor dem Peloton der Tour de France aufbaut, so hat sich in den vergangenen Wochen auch die Spannung in Felix Gall aufgebaut. Die Tour ist der Brennpunkt seiner Saison, das Rennen, um das sich seit Monaten alles dreht. Sein Training, die Rennauswahl, die Regeneration, das ganze Leben des Osttirolers war einzig auf diese drei Wochen ausgerichtet. „Ich bin noch sehr entspannt“, sagt er vor dem Auftakt am Samstag in Florenz und lacht.
Die letzten Tage des Feinschliffs verbrachte er in Isola 2000, einem hoch gelegenen Wintersportort nahe der italienischen Grenze. Er schottete sich nach außen ab, war ganz bei der Sache. „Ich bin schon ein Typ, der in den Tagen davor nur ganz wenige Nachrichten beantwortet. Ich bin mit dem Team unterwegs und will mich nicht zu sehr ablenken.“ Die 19. von 21 Etappen wird auf 2024 Metern Höhe mit einer Bergankunft entschieden. „Es hat fast jeden Tag geregnet“, erzählt der Tour-Achte des Vorjahres, „da fehlte das Sommergefühl und der Gedanke, dass die Tour in ein paar Tagen losgeht, war schon ein bisschen komisch.“
Das Bauchgefühl ist immer da und es ist positiv. „Ich fühle mich gut. Ich glaube, dass ich zum Start frischer bin als im Vorjahr. Da war ich bei der Tour de Suisse in Topform. Dass es dort heuer nicht so gut lief, war zu erwarten.“ Gerade als Kapitän muss er jetzt in Topform sein, denn auf ihm lasten die Erwartungen des französischen Rennstalls. Mit 24 Renntagen in den Beinen geht er in Florenz an den Start, im Vorjahr waren es mit 29 etwas mehr. „Ich brauche nicht so viel Intensität oder drei Rundfahrten, um in Form zu kommen. Ich glaube, der Trend der letzten Jahre geht dahin, weniger Rennen zu fahren und mehr zu trainieren. Aber die Rennen, die man fährt, da ist man in Form“.
Auf sich selbst schauen
Ob ein gut strukturiertes und exekutiertes Training eine erschundene Rennhärte vollends ersetzen kann, wird sich an Jonas Vingegaard weisen. Der Titelverteidiger hat seit seinem Sturz auf dem dritten Teilstück der Baskenlandrundfahrt im April kein Rennen bestritten. Dennoch gilt der Fahrer von „Visma | Lease a Bike“ als Anwärter auf den Sieg. Als erster Herausforderer gilt Giro-Triumphator Tadej Pogačar (UAE Team Emirates). Das Rennen wird wohl unter dem Diktat dieser Teams laufen, ein Angriff von Pogačar bereits auf der ersten Etappe ist nicht unwahrscheinlich. Galls Rezept ist einfach: „Letzten Endes muss man auf sich selbst schauen.“
Nach der Tour 2023 habe er gelernt, auch abseits des Rades mehr auf sich zu achten. Die Monate danach waren hart, die Energie verbraucht. „Ich habe seit dem Winter auch einen Mentaltrainer, mit dem ich zusammenarbeite und der mir sehr hilft. So habe ich auch jemanden, den ich jederzeit anrufen kann und der mit einer professionellen Meinung da ist.“ Seit dem Aufstieg im Vorjahr ist er gewachsen, innerlich ruhiger geworden. „In der Schweiz war ich die ganze Woche über sehr entspannt – auch wenn die Tour etwas anderes ist. Oft ist es schwierig, im Rennen entspannt zu sein, aber das gelingt mir immer besser.“ Die Atmosphäre im Team beschreibt er als angenehm, die Erfolge helfen. 26 Rennsiege stehen zu Buche. „Auch wenn man immer Leistung bringen will, spürt man so etwas weniger Druck. Man hat nicht ständig das Gefühl, gewinnen zu müssen, damit die Sponsoren glücklich sind.“
Den neuen Sponsor trägt das Team nicht nur im Namen und auf dem Trikot, auch die Ausrüstung hat der Sportartikelhersteller übernommen. Bei den Rennmaschinen handelt es sich um die ersten dieser Güte der Eigenmarke „Van Rysel“. „Ich würde behaupten, dass wir eines der besten Pakete im Feld haben – es ist verdammt schnell“, sagt Gall, der im Vorjahr immer wieder Probleme mit der Schaltgruppe hatte. „Das ist ein extrem motivierter Hersteller, der geile Räder macht.“ Das Entwicklungsteam steht in ständigem Kontakt mit dem Team. „Sie wollen wissen, was wir für eine Meinung und welche Verbesserungsvorschläge haben. Das ist anders als bei anderen großen Marken, die sich schon einen Namen gemacht haben und sich darauf ausruhen.“
Ausruhen kann sich auch Gall nicht auf den Lorbeeren des Vorjahrs. „Ich will mich da nicht auf ein bestimmtes Ergebnis festlegen. Rein gehen und das Beste daraus machen. Ich habe bestimmt auch eine Verantwortung, sehe das aber als Chance. Die Möglichkeit, zur Tour de France als Leader zu fahren, haben nicht viele. Ich bin einer von wenigen, die diese Chance haben.“