Es war kein schmeichelhafter Name, der Cyprien Sarrazin begleitete. „Psycho“ nannten ihn manche Fahrer, denn oft genug schien der Mann aus dem Ort mit dem klingenden Namen „Notre Dame des Millieres“ das Risiko falsch einzuschätzen. Die Ausfallsquote war beängstigend. Die Devise „Sieg oder Ackja“ schien auf ihn zuzutreffen; viel zu oft aber bog er falsch ab. Der Riesentorläufer ließ nur zweimal sein großes Potenzial so richtig aufblitzen: 2016 schlug er Marcel Hirscher im Parallel-Nacht-RTL von Alta Badia, 2019 schaffte er ebendort im Riesentorlauf seinen zweiten Podestplatz. Dazwischen: Verletzungen zuhauf, Pause, der Kampf zurück.
Im Sommer vor einem Jahr wollte Sarrazin eine Neuorientierung: „Eigentlich dachte ich daran, auch den Super-G zu fahren. Dafür musst du aber auch Abfahrt trainieren. Ich habe also mit meinen Trainern gesprochen, ob das geht. Es ging – und ich war schnell.“ Geboren im südfranzösischen Gap aber setzte er im ersten Jahr auf der Abfahrt dort fort, wo er im Riesentorlauf angestanden war: Zu viel Risiko, zu viele Ausfälle. „Ja, da habe ich zu viel riskiert, bin ich fast überall gestürzt. Aber das war nicht wirklich ich, der da gefahren ist, da sind mir so viele andere Dinge durch den Kopf gegangen.“
Die Erleuchtung kam vor Bormio
Sarrazin, der auch Mountainbike-Downhill-Rennen fuhr, arbeitete an sich, an seiner mentalen Stärke. Und drei Tage vor den Rennen in Bormio hatte er den Moment, der alles änderte: „Drei Tage vor den Rennen habe ich plötzlich gemerkt, das es geht. Da war mir auf einmal klar: Du kannst gewinnen, du bist am richtigen Platz – du kannst das.“ Davor war Unsicherheit stetiger Begleiter, der Zweifel, ob man wirklich gut genug sei. „Ich war mir nie sicher, ob ich es verdiene, vorne zu sein. Da dachte ich mir oft: Bleib‘ lieber, wo du bist.“ In Bormio legte er den Schalter um, forderte nicht nur Marco Odermatt, sondern schlug ihn auch. In Wengen ließ er zwei zweite Plätze und einen Sieg folgen. Sarrazin ist der Mann der Stunde und derzeit wohl der einzige, der Marco Odermatt gefährden kann.
Die Entwicklung zum Abfahrer gelang schnell. „Nach der zweiten Abfahrt in Wengen hat Dominik Paris zu mir gesagt: Jetzt bist du ein echter Abfahrer. Und wenn er es sagt, dann wird es stimmen“, sagt Sarrazin und lächelt. Was ihn ausmacht? „Nicht die Technik, sondern das Gefühl fürs Tempo. Ich mag es, enger zu fahren als alle anderen, das gefällt mir.“ Klar, dass da die Grenze zum Ausfall schnell gezogen ist. „Ich lerne schnell in der Abfahrt, aber ich muss auch demütig bleiben, nicht übertreiben. Letzte Saison war das nicht so, da habe ich dafür bezahlt. Aber ich habe eben viel mental trainiert, um Rennen auf Rennen konstant auf hohem Niveau fahren zu können.“
In Frankreich wird seine „Explosion“ gefeiert, so überraschend sie auch kam. Er gehe auf dem Wasser, schrieb eine Zeitung. Da muss Sarrazin wieder lächeln: „Nein, ich fahre nur genau so Ski, wie ich auch lebe. Aber es hat sich eben geändert, dass ich jetzt wirklich ich selbst bin.“ In Bormio bezwang er die Abfahrt, die bis dahin „die größte Challenge“ für ihn gewesen sei. Nicht Kitzbühel? „Nein, da ist einfach viel Mythos hier“, sagt er da und bekennt doch: „Im ersten Training war mein Ski kaputt, da hatte ich das erste Mal Angst, als ich in der Traverse nicht mehr wusste, wie ich die Höhe halten soll.“ Im zweiten Training sorgte er für einen Schreckmoment im Steilhang. Aber: „Es war okay. Ich fühle mich langsam wohl hier.“ Sarrazin bleibt bei sich – und will gewinnen.