Die Pandemie kam uns konsumverwöhnten Europäern wie eine große Prüfung vor: keine Konzerte, keine Reisen, keine Partys. Doch im Rückspiegel wirkt sie wie eine sanfte Ouvertüre zu dem, was noch kommt. Denn wenn der Anschein nicht schon wieder trügt, müssen wir uns mittelfristig auf harte Zeiten einstellen.
Krieg, Energiekrise, globale Lieferengpässe und die enorme Teuerung zwingen uns in einen eisernen Griff, dem wir uns ökonomisch längst entkommen wähnten. Das üppige Leben, gekennzeichnet von jederzeitiger Verfügbarkeit und gedankenlosem Verbrauch einer größtmöglichen Zahl an Dingen, steht jäh auf dem Prüfstand. Und wir ahnen, dass es diesmal um mehr geht als nur um die Gasrechnung und den nächsten Kassazettel. Der Rahmen von Wohlstand, Armut, Verteilung und Verzicht muss neu vermessen werden.
Die Frage, auf was man verzichten kann, wo der Schmerz des Mangels beginnt und wie stark das „Haben“ unser Daseinszweck ist, hat die Menschen immer beschäftigt. Viele Hunderttausend Jahre haben wir in drückender Knappheit gelebt, mussten sparen und haushalten, einteilen und wirtschaften, knausern und verzichten. Das Sparen war keine Tugend, sondern ein Überlebensprinzip: Nur wer Vorräte anlegt, kann die nächste Hungersnot überstehen.
Mehr als wir (ver-)brauchen können
Doch vor 200 Jahren haben Erdöl und industrielle Fertigung Teile der Welt ins Wunderland des Überflusses gespült. Plötzlich konnte alles mühelos hergestellt werden. Die beiden Weltkriege warfen uns nur kurz zurück und nahmen uns erneut in die Mangel des Mangels. Seit den 1950er Jahren gab es dann kein Halten mehr: Für die Zeitspanne eines ganzen Menschenlebens gab es mehr Waren, als wir brauchten – und als wir brauchen konnten.
Der Mensch wurde fast über Nacht zum „Verbraucher“, der sich durch immer neue Produktlawinen wühlt. In unsere Vorstellung vom „richtigen Leben“ mischte sich jede Menge Wunschdenken: Wir redeten uns erfolgreich ein, dass die Ressourcen endlos wären.
Sehr wahrscheinlich wurden wir also ursprünglich für eine Welt des Mangels und des Überlebenskampfes gebaut, griffen dann aber freudig zu, als wir Mittel und Wege für die technische Rückeroberung des Paradieses fanden. Zwar keimte spätestens seit den 1970er Jahren der böse Verdacht, dass die Party des Überflusses angesichts begrenzter Ressourcen nur kurz währen würde. Aber diese Unkenrufe drückten wir gerne beiseite.
Kühlschrank, Auto, Reisen
Zu verlockend sind der immer volle Kühlschrank, die stets geheizte Wohnung, die großen Autos, die vielen Fernreisen, das tägliche Fleisch sowie die Massen-Freizeitbeschäftigung „Lust- und Frustkonsum“. Hirnforscher stellten schon vor Jahrzehnten fest, dass Konsum unser Lustzentrum stimuliert, während Verzicht auf der neurobiologischen Ebene mit Angstgefühlen einhergeht.
Wir sind also in gewisser Hinsicht dazu verdammt, dem materiellen Reiz hinterherzulaufen. Güter machen uns vermeintlich unabhängig und verleihen Macht. Wer mehr hat, hat mehr vom Leben: Er kann selbstbestimmter entscheiden, seine Persönlichkeit schmücken, sich verwirklichen.
Raus aus dem Supermarkt
Die Frage ist, wie wir es schaffen, uns sozusagen aus dem Supermarkt der Wunscherfüllung wieder zurückzutasten in ein bescheideneres, aber trotzdem in jeder Hinsicht gutes Leben. Das kann nur gelingen, wenn wir für sozial Schwächere das Abrutschen in Not verhindern, ganz ohne Zynismus des Verzichts. Gleichwohl müssen wir uns eingestehen, wie sehr wir die Kultur des Überflusses nahezu zur Religion erhoben haben. Jene politischen Verwerfungen, die uns jetzt zum Umdenken zwingen, haben eng mit diesem Bild zu tun: Der Westen, der Kapitalismus, die Verheißung von Massenwohlstand und Wegwerfkonsum haben „historisch gesiegt“, lautete das nun brüchige Fundament unseres Denkens und Handelns.
Die letzten Angehörigen der Generation, die hierzulande noch in breiter Not aufwuchs, sind heute betagt oder schon verstorben. Danach kamen Generationen der Acht- und Sorglosigkeit. Alles, was mit Sparen, Verzichten, Reparieren, Maß halten und Warten (im doppelten Sinn) zu tun hat, wurde planvoll diskreditiert. Die Produktionswirtschaft setzte auf Massenverbrauch und Obsoleszenz. Ratenzahlung, Kreditkauf und sofortiger Genuss waren die neuen Bürgerpflichten.
Von 1968 an änderte sich auch die Pädagogik. Man wollte die im Gefolge des Pillenknicks selten gewordenen Kinder nicht mehr zu Sparsamkeit oder Bescheidenheit erziehen, sondern ihnen eine Komfortzone der Selbstverwirklichung zimmern. Nach der Finanzkrise 2008 brachten dann Geldschwemme und Nullzinspolitik dem Spargedanken den Tod: Wer sparte, bis er sich Dinge leisten konnte, war verrückt, während Schuldner, die über ihre Verhältnisse lebten, als klug galten.
Ein Fass ohne Boden?
Dass wir hier einen abrupten Kulturwandel brauchen, steht auch ohne Ukraine-Krieg außer Frage. Schon die Klimakrise hat uns ans Ende der Sackgasse geführt. Die gute Nachricht ist, dass wir nichts neu erfinden müssen. Es geht nicht um einen Rückfall in Armut, sondern um ein kluges Maßhalten, ein umsichtiges Verwenden. Die industrielle Technik verschwindet nicht, es wird also „oben“ weiterhin genug für alle in das Fass hineinrinnen. Nur „unten“, beim Bodenlosen, bei den Löchern der gedankenlosen Verschwendung, hätten wir uns zu ändern. Ziel muss eine Gesellschaft sein, in der sowohl unser aller Einsatz als auch der Ertrag gerechter verteilt werden.
So oder so sind wir Gäste in einem endlichen System und sollten uns dementsprechend verhalten. Sokrates schritt über den Marktplatz im antiken Athen und rief: „Wie zahlreich sind doch die Dinge, derer ich nicht bedarf!“ Vielleicht schärfen auch wir wieder unseren Sinn für mehr Zufriedenheit jenseits des Materiellen.