Es war ein heißer Tag in Venedig. Zu heiß, um sich in eine grün-weiß-rote Fahne zu hüllen oder skandierend durch die schmalen Gassen zu paradieren. Fiebrigkeit braucht die Imagination eines dramatischen Geschehens, das schien der Gegner nicht herzugeben. Die Gondolieri hoben ihre Sessel mit dem vielen Plüsch aus den Gondeln und flüchteten in einen schattigen Winkel. Ab und zu riefen sie vereinzelt vorbeikommenden Touristen „Happy Hour“-Preise um 60 statt 100 Euro zu, aber selbst die Schnäppchen verfingen nicht. Keine Amerikaner, keine Asiaten.
Auf den Glasfronten der Bars und Restaurants Vermisstenanzeigen in großen Lettern. Man sucht, woran auch hierzulande nach der Krise Mangel herrscht: „Cercasi personale! Lasciare curriculum!“ Auf dem Markusplatz wartet man keine fünf Minuten, um mit Temperaturmessung in die kühle Basilika zu gelangen, wo sie unter dem Gold die Orgel stimmen. Draußen, vor dem Cafe Florian, spielt eine Band mit weißem Sakko und Fliege tatsächlich „Quando, Quando“ und wischt sich alle paar Takte den Schweiß von der Stirn. Viele Junge hätten die Lagunenstadt verlassen und seien hinaus nach Mestre gezogen, erzählt Daniele von der Trattoria alla Rivetta. Sie hätten sich die teuren Mietpreise, 1500 Euro für eine kleine Garconniere, nicht mehr leisten können. „Zurück bleiben die Alten“. An der Wand hängen Schwarzweiß-Bilder von Joseph Brodsky, dem Literaturnobelpreisträger, der hier Stammgast war, am Tisch 83 sei er gesessen, am liebsten allein und am liebsten im Winter.
Es ist später Nachmittag am Tag der Tage, und die Trattoria ist leer. Nur die Kellner hocken an einem Tisch, holen das Mittagessen nach und erzählen von früher, als sie hier „ein paar hundert Gäste pro Tag“ bedienten und nie zur Ruhe kamen. Viele Restaurants hätten für immer geschlossen, weil sie in den umsatzlosen Monaten der Pandemie die Pacht nicht mehr stemmen konnten. Den Hotels ergehe es ähnlich, erzählt Daniele. Angestellte verloren ihre Jobs oder wechselten die Branche, wenn sie jung genug dafür waren. Manchmal seien aus alter Verbundenheit auch treue, altgediente Mitarbeiter nach Jahren aus der Pension zurückgekehrt und würden für ein Taschengeld oder nicht einmal das beim Überleben helfen.
Daniele ist ein höflicher, junger Mann. „Der Bessere möge gewinnen“, Hauptsache una bella partita. Er werde sein Handy an der Theke an ein Glas lehnen und neben der Arbeit schauen. Auf Rai Uno zeigen sie eine halbe Stunde lang in Luftaufnahmen, wie der Bus der squadra azzurra vom Londoner Hotel ins Wembley Stadion fährt. Im Univiertel von Venedig füllt sich unterdessen der Campo Santa Margherita, hier könne man sich gefahrlos unter das bunte studentische Publikum mischen, hatte die Rezeptionistin geraten. Fan-Mimikry. Während der Hymne, mehr frenetischer Ingrimm als ein ergriffenes Singen, können alle ringsum noch wacker stehen, im patriotischen Schlachtgesang aus dem 19. Jahrhundert ist vom österreichischen Monarchie-Adler die Rede, schau, ihm würden „schon die Federn fehlen“, sein Herz sei „verbrannt“.