Die Gesichtslosen. Wenn einem bei einer Wandertour in den Schweizer Bergen plötzlich Schwarznasenschafe gegenüberstehen, löst das erst auf den zweiten Blick Verzückung aus. Die erste Reaktion ist meist Schrecken: Die neugierigen, als temperamentvoll geltenden Tiere scheinen mit ihrer pechschwarzen, dichten Gesichtswolle augen-, nasen- und mundlos zu sein – das Antlitz erinnert an eine anonymisierende Maske.
Neben dem optischen kann die Begegnung aber auch einen praktischen Überraschungseffekt liefern: Es könnte nämlich sein, dass man selbst Teile der weißen Körperwolle des tierischen Gegenübers anhat. Denn seit 30 Jahren verarbeitet der deutsche Sportartikelhersteller Ortovox Wolle, seit 2011 verwendet er beispielsweise die Wolle der Schweizer Schafe als Isolationsmaterial für Jacken und Rucksack-Rückenwände.
Ortovox ist damit längst nicht alleine.
Die Branche scheint sich das Motto „Vorwärts, wir müssen zurück“ verordnet zu haben. Denn Wolle gilt als „Ur-Rohstoff“ der Bergsport-Ausrüster und erlebt aktuell dank wachsendem Nachhaltigkeitsbewusstsein der Kunden einen Ruck in Sachen Produktion und Innovation.
Wolle gegen Wärmestaus
Wolle überzeugt schon durch ihre Grundeigenschaften: Sie gilt als wasserabweisend, sehr reaktiv und widerstandsfähig, egal wie oft sie zusammengedrückt wird, springt sie immer gut in ihren Ausgangszustand zurück und lässt so viel Raum für die Luft in der Wattierung. Am Körper selbst wirkt sich klimaregulierend, weil sie Feuchtigkeit aufnimmt und langsam wieder abgibt. Vor allem für Ski-Unterwäsche hoch gefragte Eigenschaften.
„Isolation aus Wolle vermeidet Auskühlung und Wärmestaus“, erklärt Christine Ladstätter, die beim Südtiroler Ausrüster Salewa ein Partnerschaftsprojekt mit regionalen Schafbauern koordiniert. In diesem Fall geht es um Villnößer Brillenschafe und Tiroler Bergschafe. Beide sind in alpinen Höhen zwischen zwei- und dreitausend Metern daheim. Beide liefern dank des rauen Klimas eine hohe Wollqualität mit stärkeren Haaren als Merino-Schafe. „Die Bergschafe produzieren durch die Seehöhe, die Temperaturen und die Witterung in den Bergen mehr Lanolin als natürlichen Schutz“, erklärt Ladstätter. Dieses Wollwachs wird zwar bei der Verarbeitung ausgewaschen, ein Teil bleibt aber in der Wolle.
Zwei Mal im Jahr wird geschoren
Zweimal pro Jahr, im Frühjahr und Herbst, wird geschoren. Macht vier Kilo Wolle pro Schaf und eine neue, wenn auch nur spärlich fließende Einnahmequelle für die Bauern (ein Kilo Wolle bringt rund 70 Cent). Aber bis vor ein paar Jahren war es eher ein Kostenfaktor. Denn genutzt wurde von den Brillenschafen vor allem das Fleisch. Die Wolle wurde – kostenpflichtig für die Bauern – ungenutzt entsorgt. Heute wird sie mit jener der Tiroler Bergschafe bei Salewa gemischt, gekämmt, gewaschen und zu einer Wattierung für Jacken verarbeitet. Je nach Produktlinie greift man teilweise auch auf recycelte Wolle zurück, teilweise werden Isolierwerte weiter verbessert, indem die Wollfasern mit einem Mix aus eingeschmolzenen Mineralien und recycelten Polyesterfasern bearbeitet werden.
Gegen Tierquälerei
Auf Wiederverwertung von Wolle setzt man auch beim schwedischen Outdoormode-Hersteller Fjällräven. Zudem verlangt man von Lieferanten vollständige Transparenz: Da seit 2014 bei den als Isolationsmaterial verwendeten Daunen ethische Produktion und vollständige Rückverfolgbarkeit garantiert wird, hat man dieses Prinzip auch auf die Wolllieferkette ausgeweitet. Gerade bei Wolle von Merino-Schafen soll diese Qualitätskontrolle tierquälerische Methoden verhindern. Denn in Australien und Neuseeland ist das sogenannte Mulesing üblich: Dabei wird dem Schaf rund um den Schwanz die Haut ohne Betäubung weggeschnitten, um einen Befall mit Fliegenmaden zu verhindern.
Klaus Höfler