Die Sonne strahlt, als Michael Ludwig am Sonntagvormittag mit seiner Frau zum Wahllokal marschiert, und auch er grinst breit. Er ist der einzige der Spitzenkandidaten, der nicht bereits mit Wahlkarte gewählt hat. Als Bürgermeister will er ein Signal aussenden: Wir hier in Wien, will er sagen, sind auch in der Pandemie imstande, eine sichere Wahl zu organisieren. Nach der Stimmabgabe plauderte er gelöst mit wartenden Journalisten. Schon in den Wochen davor wirkte er nur selten angespannt. Lange bevor die Wahl geschlagen war, spazierte Ludwig mit dem Habitus eines Siegers durch Wien.
Spöttische Kommentare, wie es sie nach seiner Amtsübernahme gab, waren längst verstummt. Für einen spröden Langeweiler wie ihn sei die erste Reihe nichts, hieß es damals. Seinem Amtsvorgänger und Namensvetter Michael Häupl, der 24 Jahre lang Bürgermeister war, werde er nicht das Wasser reichen können. Häupl, der Wuchteln schob und grantig wurde. Der allerdings, als er 1996 das erste Mal zur Wahl antrat, fast 9 Prozentpunkte verlor. Am Sonntag schlug Ludwig seine erste Wahl mit einem deutlichen Plus vor dem Ergebnis.
An Wahlsonntagen pflegte Michael Häupl mit Journalisten zu Mittag zu essen. Ludwig hingegen absolvierte eine interne Tour durch Sektionen. Parteiarbeit machte ihn zu dem, was er ist. Auch als Chef räumt er ihr viel Platz ein. Für ein entspanntes Mittagessen mit seiner Frau war am Sonntag keine Zeit.
Anders als an einem ebenso sonnigen Herbstwochenende vor drei Jahren. Es war der 30. September 2017, zwei Wochen später wählte Österreich einen neuen Nationalrat. Christian Kern war SPÖ-Chef, der Wahlkampf war schmutzig, und an diesem Samstag waren die Dirty-Campaigning-Vorwürfe gegen die SPÖ konkret geworden. Es war ein turbulenter Tag in der Parteizentrale. Der SPÖ-Wahlkampfleiter Georg Niedermühlbichler, ein langjähriger Wegbegleiter Ludwigs aus der Wiener SPÖ, versuchte die Situation noch zu retten. Am späten Nachmittag trat er schließlich zurück.
Während all das geschah, saß Ludwig mit seiner Frau beim Brunch. Das Fiasko, das sich in den darauffolgenden Monaten für Christian Kern abspielte, sprudelte gerade über, während Ludwig seelenruhig in einem Schanigarten im 7. Bezirk Prosecco trank. Er hatte sich bereits als nächster Wiener SPÖ-Chef in Position gebracht, doch an diesem Tag hielt er sich raus. Er hatte Christian Kern ohnehin nie als SPÖ-Chef gewollt.
Die Fähigkeit, zu wissen, wann es besser ist, nichts zu sagen, ist eine der größten politischen Stärken von Ludwig. Das bekamen auch seine Gegner im Wahlkampf zu spüren. Debatten ließ er lieber die anderen führen. Selbstbewusst und unnahbar wiederholte er in Duellen und Interviews die Leistungsbilanz der SPÖ. Berechtigte Kritik an der Wiener Politik – vom Corona-Management bis zur mangelhaften Integration mancher Zuwanderergruppen – perlte an ihm ab. Ein zwiderer Blick, eine spitze Bemerkung waren das Äußerste an Konfrontation, auf das er sich einließ.
Seine Macht demonstrierte Ludwig lieber subtil. Als er etwa wenige Tage vor der Wahl die Pläne einer autofreien Innenstadt – das Prestigeprojekt seiner grünen Vizebürgermeisterin Birgit Hebein – mit einem Rechtsgutachten vom Tisch fegt. Oder als er, während ÖVP-Spitzenkandidat Gernot Blümel in seiner Rolle als Finanzminister, einen öffentlichen Konflikt mit der EU-Kommission austrug, ein Foto aus seinem Büro veröffentlichte. Lachend saß Ludwig mit Martin Selmayr, dem Vertreter der EU-Kommission in Österreich, und Walter Ruck, dem Präsidenten der Wiener Wirtschaftskammer aus dem ÖVP-Wirtschaftsbund am Besprechungstisch. Man habe ein „konstruktives und vertrauensvolles Gespräch“ geführt, ließ Ludwig vermelden.
Die Spielregeln der Macht lernte Ludwig in der Wiener SPÖ, in deren Universum er sein ganzes Berufsleben verbrachte. Im Jänner 2018 gewann er in einer Kampfabstimmung um die Nachfolge von Michael Häupl gegen Andreas Schieder. Dieser war auf heftiges Drängen einiger namhafter SPÖ-Mitglieder angetreten, die Ludwig um jeden Preis verhindern wollten.
Von „tiefem Hass“ in der Partei, den Wiener Genossen damals beklagten, spricht heute niemand mehr. Das liegt auch an Ludwigs Personalpolitik: Als er Bürgermeister wurde, baute er die Stadtregierung um. Er entschied sich für ein fein austariertes Team, das zwischen den Stimmungs- und Interessenlagen in der Partei vermittelte. Bald muss er diese Fähigkeit erneut unter Beweis stellen.
Veronika Dolna