Im Rausch des Wahlabends entwischte dem grünen Superstar Werner Kogler ein böses Wort: Die ÖVP bestehe aus „Sektenmitgliedern des Kanzlerdarstellers“, umschrieb er die alte und neue Mehrheitspartei, obwohl diese streng genommen zur Stunde gar keinen Kanzler (dar-)stellt.

Koglers Häme beleuchtet nicht nur die hohen Hürden auf dem Weg zu Türkis-Grün, sondern sie überzeichnet eine bemerkenswerte Perspektivenverengung bei den einstigen Schwarzen: Alles konzentriert sich, mehr denn je, auf die allein selig machende Figur Sebastian Kurz. Für die ÖVP, die früher mühsam von Vizekanzler zu Vizekanzler stolperte, ist er längst der Halbgott vom Ballhausplatz, der Nullpunkt des Koordinatensystems, Ground Zero und Wolkenkratzer in Personalunion.

Starprinzip statt Stammensfehden

Das ist verständlich, denn als Kanzlerwahlverein ist die früher heillos mit sich selbst beschäftigte Partei gut gefahren. Die ewigen Stammesfehden zwischen Kleinfürstentümern, grantigen Granden und unverbundenen Bünden hat man hinter sich gelassen. Kurz hat die zerklüftete innerparteiliche Karstlandschaft eingeebnet und zu seiner Spielfläche gemacht, auf der er jetzt schon zum zweiten Mal das Wunder der „neuen Volkspartei“ zum Besten gab.

Wie ist das möglich? Manches, was man dem stets höflichen Bürgersohn aus Meidling als Schwäche anlastet, spielt er in Wahrheit als Stärke aus. So ist es sein Vorteil, eben nicht die klassische Sozialisation in einer ÖVP-Teilorganisation durchlaufen zu haben. Er war vom Start weg keinem Lager verpflichtet, keinem Dogma verhaftet, keinem Lehensherrn etwas schuldig. Sein Entdecker und Förderer Michael Spindelegger, der den Jungspund an einem Junitag des Jahres 2011 völlig überraschend als Staatssekretär einsetzte, hatte später weder Kraft noch Gelegenheit, um Tribut einzuheben.

Parteiführung über WhatsApp

Außerdem war der Neuling schnell flügge. Seine Hausmacht besteht bis heute nur aus einem erweiterten Freundeskreis, der im Bedarfsfall jede schwerfällige Parteistruktur mit Leichtigkeit überspielt. Gremiensitzungen sind allenfalls Beiwerk: Die permanente Feinjustierung über WhatsApp muss genügen.

Fundament des Höhenflugs sind bei Kurz allerdings die klassischen Tugenden: Fleiß, Geduld, Zielstrebigkeit und Härte gegen sich selbst. Insider nennen als Kurz’ größte Stärke seine Fähigkeit, auf Gesprächspartner einzugehen und das Gehörte prägnant in Lösungswege umzuformen. „Er ist der beste Zuhörer“, sagt der steirische ÖVP-Landesrat Christopher Drexler. Bezirksparteichefs berichten mit Besitzerstolz, Kurz habe seine alte Handynummer bis heute behalten. Auf Kurznachrichten antworte er persönlich. Nomen est Omen. Man denkt unwillkürlich an Bruno Kreisky und dessen legendären Festnetzanschluss in der Villa in der Wiener Armbrustergasse, dessen Nummer sogar im Telefonbuch stand.

Unpretentiöse Beiläufigkeit

Nach außen sind es vor allem die unprätentiöse Beiläufigkeit der Machtausübung und die Klarheit der Sprache, die Kurz als Staatenlenker modernen Stils erscheinen lassen. Er, der im Ausland gerne einmal als „österreichischer Macron“ tituliert wird, verkörpert den schnörkellosen, jederzeit selfie-tauglichen Buddy von nebenan, der seinen Status weder durch Allüren noch durch Insignien zur Schau stellen muss.
Allerdings birgt diese Rolle dort Gefahren, wo sie in Konflikt mit den Erfordernissen der Amtsausübung gerät. Der emsig gepflegte Ruf des ÖVP-Chefs als eines bescheidenen Economy-Class-Flugzeugpassagiers geriet bekanntlich im Wahlkampf ins Trudeln, als die gehackten Abrechnungsdaten der Partei auch Buchungen fürs Privatflugzeug zutage förderten. Aber was schadet’s? Der Held und seine Adoranten waren „not amused“.

Holzschnitt, nicht Haltegriff

Während andere Politiker ein gefestigtes ideologisches Weltbild durchaus auch als willkommenen Haltegriff auf der Rüttelplatte des Alltagsgeschäfts begreifen, kommt Kurz mit wenigen holzschnittartigen Strichen aus, die sein politisches Wollen im Unscharfen belassen. Mit einem Schuss Nihilismus kommt der 33-jährige Berufspolitiker daher, und damit kommt er dem Zeitgeist auch gleich wunderbar entgegen.
Ja, man kann bei dem Wahlsieger geradezu eine Angst vor ideologischer Enttarnung ausmachen. Er glaubt ein bisserl an Gott, wollte als Kind nichts Bestimmtes werden und hat auch künftig nichts Festes vor: „Ich habe früh gelernt, dass das Leben nicht planbar ist.“

Nach links oder zur Industrie?

Freilich, Österreich soll unter seiner Führung weniger bürokratisch, weniger konfiskatorisch und wirtschaftsfreundlicher werden. Aber das war es dann auch schon. Kurz liebt Kontrolle, lässt sich von Journalisten bestimmt nicht in die Karten blicken. Anekdotisches ist von ihm kaum im Umlauf. Es gilt schon als besonders intime Mitteilung, dass seine Mutter Deutschlehrerin ist und der Vater HTL-Ingenieur. Jeder Versuch der Verortung führt in die Sackgasse der Vermessung des Ungefähren.
Damit macht sich der ÖVP-Chef freilich zur Projektionsfläche für allerlei Zuschreibungen. Ohne FPÖ „kippt Kurz nach links“, stand auf den blauen Wahlplakaten. Die SPÖ ging auf Großspendersuche, um die geheime Industrie-Abhängigkeit des finsteren Gesellen zu beleuchten. Ein Land rätselt: Man weiß nicht nur nicht, mit wem er regieren wird, sondern nicht einmal, mit wem er regieren will. Wird Kurz im Klimakabinett womöglich ergrünen? Tauscht er rechte Menschen gegen Menschenrechte?

Feindschaft als Zuckerguss

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Freilich sind es seine unbeholfenen Gegner, die das Legendenbild des Sebastian Kurz noch mit dem letzten Zuckerguss versehen. Man hat es zwar bei Themen wie Migration, 12-Stunden-Tag oder Kassenreform mit inhaltlicher Kritik versucht, bekam dort aber rasch den Gegenwind des Zeitgeistes zu spüren. Deshalb gibt es persönliche Verunglimpfungen sonder Zahl, vom „Studienabbrecher“ bis zur Verächtlichmachung des Namens, des Aussehens, des Alters. All das hat Kurz stark gemacht, und die ÖVP genießt glücklich die Ehe auf Zeit. Denn um eine solche muss es sich wohl handeln. Man hat sich auf Gedeih gebunden, aber nicht auf Verderb. Gefragt nach der größten Stärke des Chefs sagt ein ÖVP-Funktionär unverblümt: „Er gewinnt Wahlen.“