Ein Simmeringer in Kapfenberg? Das müsste frei nach dem Kabarettisten Helmut Qualtinger eigentlich in Brutalität münden. Doch weit gefehlt: Als Christian Kern das Kapfenberger Einkaufszentrum betritt, spielt die Blasmusik fröhlich auf und die Menschen drängen sich erfreut um den aus Simmering gebürtigen Kanzler. „Danke für Ihre Arbeit!“, sagt eine Frau. Das hört man als Politiker auch nicht oft. Kern antwortet freundlich: „Danke, dass Sie uns unterstützen!“

Nach den vielen Verwerfungen des schmutzigen Wahlkampfs bestreitet der SPÖ-Kandidat in der Böhlerstadt endlich einmal ein glattes Heimspiel, und er ist willens, den Zauber des Augenblicks auszukosten. Ort der Handlung ist kein schicker Flagship-Store, sondern ein in die Jahre gekommener Einkaufsmarkt für Menschen, die ab dem 20. des Monats jeden Euro umdrehen müssen.



Zur Mittagszeit haben sich hier die eingefleischten SPÖ-Fans versammelt, einige tragen ein Bild des Parteichefs am Revers. Die Kern-Verehrung hat in diesem Milieu keine Risse bekommen, eher nimmt sie unter dem Druck von außen noch zu. „Sie sind eigentlich zu intelligent für die Politik“, streut eine Frau dem Regierungschef Blumen. Kern kontert amüsiert: „Na ja, ich glaub, es verbessert sich nichts, wenn ein Blöder Bundeskanzler ist.“

Der Rückenwind der Begeisterung hier ist eine süße Droge. Doch es könnten womöglich die letzten Tage der Mehrheit sein – dann wäre die Euphorie so trügerisch, wie sie Karl Kraus in den „Letzten Tagen der Menschheit“ beschrieben hat. Der Kandidat weiß, dass er jetzt um jede Stimme laufen muss, wenn er kommenden Sonntag nicht der kürzestdienende Bundeskanzler der Republik werden will. Als ihm ein 81-jähriger Mann Gesundheit wünscht, besteht Kern auf einer Ergänzung: „Gesundheit und Glück. Ein Freund von mir sagt immer, man muss Gesundheit und Glück wünschen. Denn die auf der Titanic, die waren alle gesund.“

Auf der Titanic? Kern mag sich mitunter fühlen wie der Kapitän auf dem Unglücksdampfer. Aber er will gewiss nicht tatenlos zusehen, wie die Bordkapelle unbekümmert weiterspielt. Man spürt, dass er kämpft. Dass er nichts unversucht lässt, um das Ruder herumzureißen und dem türkisblauen Eisberg zu entgehen.
Im Straßenwahlkampf ist ihm kein Anliegen zu gering, um nicht Interesse zu zeigen. Der elegante Manager im Slim-Fit-Anzug, der zwei Jahrzehnte in den Vorstandsetagen des Verbundkonzerns und der ÖBB verbrachte, wandelt sich in diesen Momenten zum hemdsärmeligen Kumpel von nebenan, der unbekannte Passanten unbekümmert mit „Du“ anspricht.

Als ein beleibter Pensionist im weißen Rauschebart über das Rauchverbot im Einkaufszentrum klagt, wiegelt Kern zunächst ab: „Na, geh, kumm –draußen derfst’ eh rauchen.“ Dann zwinkert er dem Mann verschwörerisch zu: „Hast’ eine eing’steckt? Dann gemma aussi, ich rauch’ eine mit dir!“ – „Des schau i mir an“, sagt der Mann ungläubig. Doch tatsächlich eilt Kern mit ihm vor die Tür, lässt die Fotografen ihre Kameras ausschalten und erzählt bei einer hastigen Zigarette: „Meine Frau will nicht, dass ich rauche, und drum such’ ich zu Hause immer verzweifelt ein Platzerl.“ Diese kleinen Ausbrüche mag man als Anbiederung abtun, aber bei Kern haben sie etwas Authentisches. Er war immer stolz darauf, mehr Einsatz zu bringen als andere. Das will er auch in diesem Wahlkampf beweisen.

Der Sohn einer Sekretärin und eines Elektroinstallateurs wuchs in einem bescheidenen Arbeiterhaushalt auf. Als Kind wollte er Profifußballer werden, auf seiner Homepage lässt er sich noch heute als „Sportskanone“ feiern. Später engagierte er sich beim sozialistischen Studentenverband, war früh Vater und sogar zeitweise Alleinerzieher, hatte Soziologie, Politikwissenschaft, Volkswirtschaft und Publizistik inskribiert. Um ein Haar wäre er Wertpapierhändler geworden: „Wirtschaft hat mich immer interessiert.“ Doch dann erreichte ihn – schöne Pointe – just am 1. Mai 1991 der Anruf von SPÖ-Staatssekretär Peter Kostelka, der Kern als Pressesprecher anheuerte.

Der weitere Weg war, zumindest bis zur Rückkehr in die Politik, vom Glück begünstigt: Ein Jahr vor dem Vranitzky-Rücktritt und rechtzeitig vor den SPÖ-Oppositionsjahren wechselte Kern in den Verbund-Konzern, wo er die Chancen der Energiemarkt-Liberalisierung nutzte und bald als talentierter Manager von sich reden machte. Als Bahn-Chef festigte er sein Ansehen und konnte auch Steherqualitäten für die Polit-Rituale einüben.

In Kapfenberg steht der Kanzler inzwischen an einer Wursttheke und schüttelt Hände. „Wir hoffen, dass ma ’s g’winnen“, sagt ein Mann, und Kern spricht sowohl ihm als auch sich selber Mut zu: „Du holst noch drei Stimmen, und dann brauch’ ma nicht hoffen. Dann wissen wir, dass es sich noch ausgeht.“ Zwischendurch preist er die SPÖ-Idee einer Erbschaftssteuer, stößt aber auf unerwarteten Widerstand: „Ich hab damals 25.000 Schilling Erbschaftssteuer zahlen müssen“, erinnert sich eine Frau. Der Kanzler ist kurz verblüfft, fängt sich aber sofort wieder und setzt nach: „In meinem Modell hätten Sie nichts gezahlt, sondern nur die Millionäre.“

Dann eine kurze Mittagspause im Wahlkampfbus. Kern säubert sich sorgfältig die Hände – „eine Vorsichtsmaßnahme, ich darf nicht krank werden“ – und beißt in eine Wurstsemmel. Die Umfragedaten würden zuletzt wieder nach oben zeigen, übt er sich in Optimismus. Und nennt eine „Hauptursache“ für die Kalamitäten der Causa Silberstein: „Ich habe gedacht, ich kann im Wahlkampf die Aufgaben delegieren und das klappt dann. Das war Manager-Denken.“

Es folgt der nächste Termin: ein Fest im Kindergarten St. Marein. Etwas ungelenk stehen Kern und der steirische SPÖ-Chef Michael Schickhofer im Gewurl der Kinder und hören sich Lieder an. Ein Bub im gelben T-Shirt fasst sich ein Herz und zupft den Regierungschef am Sakko. „Servus! Du bist der Bundeskanzler!“ Solche Begegnungen seien für ihn die reine Motivation, schwärmt Kern später. Und wenn es am Sonntag doch nicht reicht? „Ich bin ein großer Shakespeare-Fan“, antwortet er und sagt gelassen: „Irgendwann geht bekanntlich alles zu Ende.“