Am Sonntag werden die politischen Karten in Österreich neu gemischt. Vom neuen Machtgefüge im Parlament hängt es im Wesentlichen ab, welche Koalition in den nächsten fünf Jahren das Land regieren wird, wer im nachgelagerten Bereich etwa Unternehmen im staatsnahen Bereich oder im ORF das Sagen hat.

„Prognosen sind schwierig, insbesondere wenn sie die Zukunft betreffen“, lautet ein geflügeltes Wort, das Winston Churchill oder auch Mark Twain zugeschrieben wird. Das gilt auch für diese Wahl. Die Meinungsforscher gehen von einem Sieg der FPÖ aus, gefolgt von der ÖVP und der SPÖ. Das Rennen um Platz vier zwischen Grünen und Neos ist offen.

Doch kleine Veränderungen können zu tektonischen Verschiebungen führen. So gesehen sind Vorhersagen über die Zusammensetzung der nächsten Regierung mit großen Unwägbarkeiten verbunden.

Nicht inkludiert in die Aufzählung sind drei weitere Szenarien: eine Minderheitsregierung (nahezu  unwahrscheinlich), eine Expertenregierung (wenig wahrscheinlich) oder Neuwahlen, sollte etwa eine Dreierkoalition nach wenigen Monaten implodieren. Neuwahlen sind durchaus im Bereich des Möglichen.

1) Das Beste aus drei Welten

Eine Dirndlkoalition aus Schwarz/Türkis, Rot und Pink erscheint derzeit als wahrscheinlichste Variante. Bleibt die ÖVP unter Karl Nehammer bei ihrem kategorischen Nein zu einer Allianz mit einer von Herbert Kickl geführten FPÖ, würde Österreich erstmals in der Geschichte von einer Dreierkoalition regiert werden. In anderen Ländern der EU gehören Koalitionen aus drei, vier und mehr Parteien zum politischen Alltag.

Die Neos haben in jedem Fall deutlich bessere Karten als die Grünen, wenn es um die Rolle des Juniorpartners geht. Klimaschutzministerin Leonore Gewessler hat sich’s mit ihrer unbeugsamen Ablehnung von Straßenbauprojekten nicht nur mit der ÖVP, sondern auch den roten Landeschefs verscherzt. Verwiesen sei auf den Lobautunnel, den Ausbau der S36 und S37, den dreispurigen Ausbau der A-9 südlich von Graz.

Die Neos unter Parteichef Beate Meinl-Reisinger liebäugeln schon seit längerem mit dem Eintritt in eine Regierung. Es wäre der vorläufige Höhepunkt einer Parteigründung, die vor rund zehn Jahren ihren Ausgang genommen hat.

Angesichts der Dreiervariante dürften sich die Regierungsverhandlungen durchaus schwierig gestalten. Vor allem ist nicht klar, welche Rolle SPÖ-Chef Andreas Babler nach der Wahl spielt. Die ideologischen Differenzen schienen bei Türkis-Grün zunächst aber auch unüberwindbar zu sein.

2) Das Comeback der Großen Koalition

Monatelang hieß es, Österreich steuere am Sonntag auf eine dreifache Zeitenwende zu: Erstmals seit 1945 könnten die Freiheitlichen auf Platz eins liegen, eine Dreierkoalition das Licht der Welt erblicken, die staatstragende SPÖ auf Platz drei abrutschen. Glaubt man den Meinungsforschern, könnte es anders kommen. Sollten die Kleinstparteien, allen voran die Bierpartei und die KPÖ, nicht den Sprung ins Parlament schaffen, könnte die nicht mehr so Große Koalition ein Comeback feiern.

Verfehlen die Kleinparteien die Vier-Prozent-Hürde, sinkt automatisch die Schwelle für eine Mandatsmehrheit, weil die Stimmen der Kleinsten bei der Vergabe der Sitze dann nicht mehr ins Gewicht fallen. Sollte das Quartett der Kleinsten etwa gemeinsam acht Prozent der Stimmen auf sich vereinen, würden 92 Prozent für die Berechnungen herangezogen werden. Dann würden bereits 46 Prozent der Stimmen, so ein von Experten erstelltes Simulationsmodell, für eine Koalitionsbildung genügen, allerdings mit einer hauchdünnen Mehrheit von 93 Mandaten – 92 Abgeordnete reichen fürs Regieren. Kämen ÖVP und SPÖ in Summe auf 47 Prozent, wäre die Koalition mit 95 Mandaten deutlich besser abgesichert. 

3)Türkises Wunschdenken

Die inhaltliche Schnittmenge zwischen der ÖVP und der FPÖ ist besonders ausgeprägt. Nicht nur in der Migrationspolitik, auch in Themenfeldern wie Wirtschaft, Steuern, Arbeitsmarkt, Soziales, Verkehr oder auch Klimaschutz sind die Überschneidungen groß. Was beide Parteien trennt, ist die Europapolitik, auch der russische Überfall auf die Ukraine.

ÖVP-Spitzenkandidat Karl Nehammer verknüpft sein Nein zu einer Koalition mit der Person von Herbert Kickl. Würde Kickl weichen, würde man durchaus eine gemeinsame Regierung mit der FPÖ bilden, heißt es. Das entspringt allerdings türkisem Wunschdenken.

Sollte die FPÖ erstmals seit 1945 auf Platz eins landen, ist es nahezu undenkbar, dass die Blauen – wie einst 2000 – den Parteichef opfern und eine andere Kandidatin wie Susanne Riess-Passer („Susanne, geh du voran“) aufs Schild heben. Ein zweites Mal sind die Freiheitlichen zu einem solchen Manöver nicht bereit. Ein „Marlene, geh du voran“ (Salzburgs FPÖ-Chefin Marlene Svazek) ist unrealistisch. Noch dazu ist Kickl jener Spitzenkandidat, der am wenigsten in die Regierung drängt – und auf die übernächste Wahl schielt.

Sollte die ÖVP am Sonntag doch vor der FPÖ liegen, wovon keine Umfrage derzeit ausgeht, könnte es im blauen Lager durchaus Kräfte geben, die dem Parteichef nahelegen, einen Schritt zurückzutreten.

4)Wird Kickl Kanzler?

Sollten die Umfragen stimmen, wäre Blau-Schwarz jene Zweierkoalition, die am ehesten über eine sichere Mandatsmehrheit verfügt. Einziger Haken: ÖVP-Chef Nehammer ist nicht bereit, FPÖ-Chef Kickl zum Kanzler zu machen. Was von solchen kategorischen Festlegungen der Volkspartei zu halten ist? Im Vorfeld der Landtagswahlen in Niederösterreich und in Salzburg schloss die ÖVP eine Koalition mit der FPÖ kategorisch aus, es kam anders. Sollte die ÖVP am Sonntag hinter die SPÖ zurückfallen, könnte der innerparteiliche Druck, der FPÖ das Kanzleramt zu überlassen, steigen. Nehammer wäre dann nicht mehr Parteichef.

5) Ein unwahrscheinlicher Dreier

Als Alternative zu einer Dirndlkoalition, also einer Allianz aus ÖVP, SPÖ und Neos, könnten die beiden ehemaligen Großparteien als Zünglein an der Waage die Grünen ins Boot holen. Grünenchef Werner Kogler und sein Team hätten sicherlich nichts gegen einen Verbleib in der Regierung. Darüber hinaus dürfte auch SPÖ-Chef Andreas Babler eine Präferenz für diese Variante haben, sind sich die Roten und die Grünen wohl inhaltlich näher als Rot und Pink. Das betrifft nicht nur die Sozialpolitik oder die Umweltpolitik, sondern auch das weite Feld der Steuerpolitik. Vermögens-, Millionärs- und Erbschaftssteuern kann Babler nur mit den Grünen durchsetzen, sonst findet er bei den fünf im Parlament vertretenden Parteien keinen Partner.

Sollte die ÖVP vor der SPÖ liegen und somit dann auch den Kanzler stellen, würde eine solche Variante wohl am Widerstand der ÖVP scheitern. Auch mächtige SPÖ-Landeschefs stünden einem solchen Schulterschluss skeptisch bis ablehnend gegenüber. So gesehen haben die Grünen deutlich schlechtere Karten als die Neos. Noch dazu koaliert der nicht ganz einflusslose Wiener Bürgermeister und Landesparteichef Michael Ludwig in der Bundeshauptstadt mit Pink.

6) Eine Ampel hat keine Mehrheit

Eine Mandatsmehrheit aus SPÖ, Neos und Grünen ist nicht in Sicht. Das liegt auch daran, dass die Kleinstparteien deren Wähler binden und dem Trio zu keiner Mehrheit verhelfen.

7) Eine unwahrscheinliche Chianti-Koalition

Die Wahrscheinlichkeit, dass sich eine Koalition aus FPÖ und SPÖ arithmetisch ausgeht, ist 50:50. Ein Schulterschluss mit Kickl würde die SPÖ zerreißen. 2004 wurde in Kärnten Blaurot mit einem Glas Chianti besiegelt