Österreich ist seit 1955 ein neutraler Staat, als EU-Mitglied seit 1995 Teil der im Entstehen begriffenen gemeinsamen Sicherheits- und Verteidigungspolitik der Union und seit Jahrzehnten Kooperationspartner des westlichen Verteidigungsbündnisses der Nato. All diese Entscheidungen fielen mit Zustimmung der großen Parteien ÖVP, SPÖ und FPÖ. Der Angriff Russlands auf die Ukraine 2022 hatte auch für Europas Neutrale massive Folgen: Schweden und Finnland traten der Nato bei, Österreich entschloss sich im heurigen Frühjahr, der europäischen Raketenabwehr-Initiative Sky Shield beizutreten.
Nun ist es jedoch vor allem die FPÖ, die gegen diesen Schritt im Wahlkampf und schon auch zuvor zu Felde zieht. „Schwarz-Grün hebt heute ihren gelebten Verrat an unserer immerwährenden Neutralität auf eine neue Stufe“, übte FPÖ-Parteiobmann Herbert Kickl Ende Mai scharfe Kritik am Beschluss der Regierung. „Wo ‚Ja‘ zu Sky Shield draufsteht, ist auch das ‚Ja‘ zur Nato und das klare ‚Nein‘ zu unserer immerwährenden Neutralität drinnen“,donnerte der FPÖ-Obmann damals. Im laufenden Wahlkampf verspricht die Partei, aus dem Vertrag auszusteigen und die erheblichen Kosten in der Höhe von rund sechs Milliarden Euro einzusparen. So erklärte am Mittwoch der freiheitliche Wehrsprecher Volker Reifenberger einmal mehr einen „halben Nato-Beitritt durch die Hintertür“.
Russlands Überfall als Geburtshelfer für Sky Shield
Die Teilnahme am Sky Shield soll in mehreren Phasen erfolgen. Mit Österreich nehmen aktuell 21 europäische Länder an der vom deutschen Bundeskanzler Olaf Scholz ins Leben gerufenen Initiative teil. Ziel ist es, Lücken im bisherigen Schutzschirm für Europa zu schließen, unter anderem durch gemeinsame Einkäufe von Waffensystemen.
Ist die Teilnahme Österreichs an Sky Shield mit der Neutralität vereinbar? ÖVP und Grüne sind davon jedenfalls überzeugt, Verteidigungsministerin Klaudia Tanner (ÖVP) bezeichnet die Initiative als „Speerspitze der Neutralität“, weil die Verfassung vorschreibe, diese mit allen zur Verfügung stehenden Mitteln zu verteidigen. Tatsächlich ist auch die neutrale Schweiz bei dem Projekt mit dabei. Für Tanner ist entscheidend, dass Sky Shield die zentralen Punkte der Neutralität – keine Teilnahme an kriegerischen Handlungen, keine ausländischen Truppen auf heimischem Boden, kein Beitritt zu einem Militärbündnis – nicht berühre.
Der von der FPÖ nominierte Völkerrechtler Michael Geistlinger dagegen sieht in der Teilnahme an Sky Shield einen Verstoß gegen die Neutralität, da es sich hierbei „klar“ um ein militärisches Bündnis und keinesfalls um eine reine Beschaffungsplattform handle.
Völkerrechtler vermisst konkrete Dertails
Die Freiheitlichen wollen daher einen sofortigen Stopp der Sky-Shield-Initiative, erklärte Reifenberger. Verteidigungsministerin Klaudia Tanner (ÖVP) dürfe keine weiteren Rechtsakte setzen. Der blaue Wehrsprecher kritisierte zudem, dass das von Tanner unterzeichnete Memorandum of Understanding nicht dem Parlament vorgelegt wurde. Entlarvend sei auch, dass Tanner im Zusammenhang mit Sky-Shield von einem „Meilenstein“ spreche. Wäre es nur eine Einkaufsplattform, dann wäre es wohl kein „Meilenstein“, argumentierte Reifenberger.
Für den Völkerrechtler Ralph Janik kommt es dagegen auf Kommandostruktur, Beistandspflicht, Operationen fremder Streitkräfte auf österreichischem Gebiet an. „Vieles ist derzeit noch unklar, wir sind ja erst in einer Frühphase. Falls Sobald Sky Shield ein Militärbündnis ist/wird, kann Österreich nicht (mehr) oder nur unter Auflagen (weiter) dabei sein“, schreibt Janik auf seinem Blog. Und weiter: „Übrigens weiß niemand so genau, was ein Militärbündnis ist. Reflexartig wird dann auf die NATO verwiesen. Bei der EU spricht man wiederum von einem „Verteidigungsbündnis“ (...). Wo genau der substantielle Unterschied liegt, konnte mir allerdings noch niemand so genau beantworten.“
Was bis dato tatsächlich fehlt, ist ein offizielles, von der Regierung beauftragtes Gutachten zur Neutralitätsverträglichkeit von Sky Shield, wie es etwa SPÖ-Wehrsprecher Robert Laimer fordert.
Die Raketenabwehr-Initiative wird mit Sicherheit auch die nächste Regierung intensiv beschäftigen. SO oder so.