Der Schock saß tief, als die beiden Kammern des US-Kongresses am späten Mittwochabend ihre Arbeit wieder aufnehmen konnten. Zuvor hatten sich Repräsentanten und Senatoren teils über Stunden in ihren Büros und anderen Räumen verschanzt, um Schutz vor Randalierern zu finden, die – aufgestachelt durch den Präsidenten der Vereinigten Staaten von Amerika – am frühen Nachmittag das Gebäude gestürmt hatten. Zeitweise zog Tränengas durch die Hallen des ehrwürdigen Bauwerks. Es kam zu Schüssen. Mehrere Mitglieder sprachen später von Randalen, von einem Aufstand – und von einem Putschversuch.
Die Wortwahl mag drastisch sein, übertrieben ist sie nicht. Was da am Kapitol geschah, war nichts weniger als der Versuch einer gewalttätigen Minderheit, den Wahlprozess der ältesten bestehenden Demokratie der Welt zu stören und so womöglich den legitimen Wahlsieger Joe Biden von der Macht fernzuhalten. Der Kongress war zusammengekommen, um das Wahlergebnis des Electoral College zu zertifizieren, das im Dezember Biden mit deutlichem Vorsprung zum nächsten Staatsoberhaupt der Vereinigten Staaten bestimmt hatte. Diese Bestätigung durch den Kongress ist der letzte formale Schritt, um den Erfolg des Demokraten offiziell zu machen. Die Stürmung des Kapitols verzögerte sie nun um mehrere Stunden.
Wer Wind sät...
Angeheizt wurden die Ausschreitungen von dem Mann, der das Weiße Haus in zwei Wochen verlassen muss: Donald Trump. Noch während der Kongress zu seiner Sitzung zusammenkam, hielt das abgewählte Staatsoberhaupt eine Rede an der Ellipse, ein kleines Stück südlich vom Weißen Haus. Trump nutzte seinen Auftritt, um vor zehntausenden Anhängern aus dem ganzen Land einmal mehr die Lüge zu wiederholen, die Wahl sei ihm gestohlen worden. Er bedrohte seine politischen Gegner, die sich in den vergangenen Monaten geweigert hatten, das Gesetz zu brechen, um ihn im Amt zu halten. Er forderte seinen Vize-Präsidenten Mike Pence zum Verfassungsbruch auf. Und er rief seine Anhänger zum Marsch aufs Kapitol auf, um den Druck auf die Abgeordneten zu erhöhen, Biden die Zertifizierung doch noch vorzuenthalten. Kurz nachdem seine Limousine ihn zurück ins Weiße Haus gebracht hatte, brach der Sturm los.
Der Gewaltausbruch war jedoch mehr als die Reaktion auf eine aufpeitschende Rede. Er war die Kulminierung von vier Jahren Trumpismus im mächtigsten Amt der Welt. Trump hat seine Zeit als Staatsoberhaupt vor allem dazu genutzt, die Vereinigten Staaten zunehmend zu spalten. Seine Anhänger sollten die politische Konkurrenz als Feinde betrachten, als Übel, das es auf jeden Fall zu verhindern galt. So schuf er ein Klima, das für den harten Kern seiner Anhänger eine friedliche Machtübergabe an einen Demokraten schlicht unmöglich machte.
Trump hat die Spaltung nicht verursacht, ...
Trump hat diese Spaltung nicht verursacht. Sie geht zum Teil Jahrzehnte zurück. Doch er hat sie enorm verstärkt – unterstützt von einem großen Teil seiner Partei, der Republikaner, die sich die Vorzüge eines Präsidenten im Weißen Haus sichern wollten, der Richter in ihrem Sinne berief und ansonsten meist unterschrieb, was man ihm hinlegte. Deshalb ignorierten sie über Jahre die kaum verhohlenen Dämonisierungen, die Beleidigungen, das ständige Brechen von Normen.
... aber er hat sie verstärkt
Als er nun im Zuge seines unterirdischen Managements der Covid-Krise sein Amt verlor, begannen langsam die Absatzbewegungen. Doch das akzeptierte Trump nicht. Die politischen Überzeugungen des Noch-Präsidenten sind überschaubar, doch Loyalität ist für ihn nicht verhandelbar. Also wandte er sich nicht nur gegen die Demokraten, sondern auch gegen seine vermeintlichen Parteifreunde, die aus seiner Sicht nicht eng genug an seiner Seite standen. Für seine Unterstützer wurden damit auch sie zu Feinden. Dass an der Zentrale der Republikaner im Stadtteil Capitol Hill ein Sprengsatz gefunden wurde, ist aus diesem Blickwinkel nur folgerichtig. Trumps treueste Anhänger sind keine Republikaner – auch wenn die Partei gehofft hatte, sie dauerhaft an sich zu binden. Sie sind Trumpisten.
Angesichts dieser Gemengelage hat Joe Biden eine enorme Aufgabe vor sich, wenn er am 20. Januar die Präsidentschaft übernimmt. Er muss nicht nur das Land aus einer tiefen Rezession retten und eine nahezu unkontrollierte Pandemie eindämmen, sondern auch versuchen ein Land zu vereinen, in dem eine nicht kleine Minderheit seine Präsenz im Weißen Haus als Verrat empfindet. Diese vertiefte Spaltung, diese Unversöhnlichkeit, ist das politische Erbe von Donald Trump. Die USA werden lange brauchen, bis sie es verarbeitet haben.
unserem Korrespondenten Julian Heißler aus Washington